Diese Deutschen. Dietmar Krug
vor mir hatte. Er war ein Japaner mittleren Alters, ungefähr so groß, wie ich mit elf war – und ich war kein besonders großes Kind. Sein rechter Arm steckte in einem Gips, der von der Schulter bis zum Handgelenk reichte, und das Nächste, was mir auffiel, waren seine Finger, die zwar gut zu seinen sonstigen Proportionen passten, nicht aber zu der Akrobatik, die einem das Griffbrett einer Gitarre abverlangt. Ich fragte ihn, was es mit dem Gips auf sich hätte. »Platte aufgenommen. Viel üben. Dann Finger steif, mehr üben. Dann Finger noch mehr steif, noch mehr üben. Dann Sehnenscheidenentzündung. Jetzt Gips.«
Am Ende der ersten Stunde saß ein kleines Mädchen mit einem Papagei auf dem Arm in meinem Gitarrenkoffer, offenbar Suzukis Tochter. »Wie heißt denn dein Vogel?«, fragte ich. »Figalo.« – »Ah, Figaro«, meinte ich, »ein hübscher Name.« Das Mädchen zog zornig die Augenbrauen zusammen: »Nix Figaro. Figalo! Er heißt Figalo. Glaubst du, ich kann nicht R sagen?«
In der zweiten Stunde zeigte Tasashi Suzuki mit seinem filigranen Zeigefinger auf das Notenblatt und sagte: »Hier Horhalt, du betonst falsch, spiel so!« Dann klemmte er sich meine Gitarre unter den Gips und spielte die Stelle, wie ich sie nie im Leben würde spielen können. Was ein »Horhalt« war, erschloss sich mir in der Stunde darauf, als er mir auftrug: »Spiel Huge von Bach!« Hugo von Bach? Auf dem Nachhauseweg fiel der Groschen: Eine Bach-Fuge! Und der Horhalt war ein Vorhalt.
Irgendwann wurde ich neugierig, was ein Künstler vom Format eines Tasashi Suzuki sonst so triebe, zumal jetzt, da ihn der Gips hinderte, täglich sein achtstündiges Technikprogramm zu absolvieren. »Höre Musik.« »Und welche?« »Beethoven zu schwer, Mozart zu leicht, Brahms gut, Mitte.«
Meine Virtuosenkarriere geriet dann ins Stocken, als sich herausstellte, dass das Suzuki-Übungsprogramm nicht recht zum Zeitmanagement meines damaligen Lebenswandels passen wollte. Und nachdem ich mich eines Nachts im Traum vor großem Publikum gesehen hatte, beidarmig vergipst, besorgte ich mir eine E-Gitarre.
Unlängst habe ich in meiner Band von der Zeit bei Tasashi Suzuki erzählt, und der Schlagzeuger, der wohl das ist, was man als waschechten Wiener bezeichnet, bemerkte: »Maanst, uns geht’s besser? Mir ham an Piefke in der Band.«
Pedanten und Schlaucherln
Das Elend an der Migrationsdebatte ist, dass sie so oft als Instrument dient, um eigene Interessen oder Defizite zu bemänteln. Da regen sich Leute über Frauen mit Kopftüchern auf, die noch nie ein Problem damit hatten, dass in ihrer eigenen Kirche die Frau bis heute nur untergeordnete Hilfsdienste leisten darf. Die anderen werfen den Kids fehlende Deutschkenntnisse vor, denken aber nicht im Traum daran, ihnen die gleichen Bildungschancen zu eröffnen wie ihren eigenen Kindern.
Als Deutscher muss man sich zwar nicht mit Debatten über Kopftücher oder Sprachdefizite herumschlagen. Aber wenn einem hierzulande der Mentalitätsunterschied als Argument aufgetischt wird, dann heißt das zumeist nichts Gutes.
Dazu ein Beispiel: Ich habe einmal mit einem österreichischen Partner freiberuflich an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet. Bald stellte sich heraus, dass die Zusammenarbeit gut funktionierte, das Projekt wurde uns wichtig, wir investierten viel Zeit, Energie und Sorgfalt darin. Und weil der Einsatz hoch war, wollte ich rechtzeitig eine Vereinbarung darüber treffen, wie am Ende kenntlich werden würde, wer woran welche Verdienste und Anteile hatte. Es ging dabei nicht um Geld, sondern um ideelle Fragen von Know-how und Copyright. Auch ums Prestige, wenn man so will. Ich schlug einen Modus der Kenntlichmachung vor, mein Partner war sofort einverstanden, die Arbeit ging voran.
Als das Projekt schließlich fertig war und kurz vor der Präsentation stand, nahm mich mein Partner beiseite und meinte: »Du, das mit dem Copyright, das sollten wir anders regeln.« Ich erinnerte ihn an unsere Abmachung. Ja eh, war seine Antwort, aber er sehe das jetzt eben anders. Das falle ihm aber reichlich spät ein, entgegnete ich. Die Sache schaukelte sich hoch, wurde energisch, es kam zu einem handfesten Streit, in dessen Verlauf mein Partner irgendwann die Migrationskarte aus dem Hut zog: »Für euch Deutsche gilt halt bald etwas als fix. Wir Österreicher handhaben das lockerer. Was für euch ausgemacht ist, heißt für uns in der Regel: Das schnapsen wir uns schon noch aus.«
Wer bei dem Konflikt in der Sache recht hatte, sei dahingestellt, wir hatten beide unsere Interessen und Argumente. Aber sich hier mit einem Mentalitätsunterschied aus der Affäre ziehen zu wollen, ist nichts als ein billiger Trick. Wäre es mehr als das, würde es auf beide, Deutsche wie Österreicher, kein gutes Licht werfen: Wir Deutschen wären demnach ungemütliche Pedanten, die jedes noch so beiläufig geäußerte Wort jederzeit auf die Goldwaage der Verbindlichkeit legen können. Und die Österreicher wären bekennende Schlaucherln, für die ein Wort erst dann gilt, wenn es in der Schnapskammer für Sozialpartner gegeben wird.
Die Komik des Exoten
Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, wurde zu einer Zeit gebaut, als Häuser nicht mehr Häuser hießen, sondern Bungalows. Sie hatten alle einen Winkel im Bauplan, eine Terrasse an der Rückseite und natürlich eine Garage, deren Einfahrt entweder mit grauen Steinplatten oder mit rotem Rollsplitt bedeckt war. Unsere Straße war eine Sackgasse am äußersten Rand des Dorfes. Autofahrer, die es dorthin verschlug, mussten eine der Garageneinfahrten nutzen, um zu wenden, was wiederum die Bungalowbesitzer in Rage brachte. Hatte man sich seine gepflegte Einfahrt etwa vom Mund abgespart, nur damit dahergefahrene Wildwender gratis den Belag abnutzten? Gab es denn kein Gesetz gegen motorisierten Grundfriedensbruch?
Einer unserer Nachbarn wusste dieser Wendeanarchie ein Ende zu bereiten, indem er einen aufklappbaren rot-weißen Metallpfosten in der Einfahrt montierte. Das umständliche Klappen und Sperren bei jeder Garagenbenutzung nahm er gern in Kauf; kein fremder Reifen würde je wieder seinen Belag radieren. Dass ich bei diesem rot-weißen Pfosten an Österreich denke, liegt nicht daran, dass ich in den letzten zwanzig Jahren zu viel von diesen Farben gesehen hätte. Nein, der Nachbar war ein Wiener. Es hatte ihn in den Fünfzigerjahren ins Rheinland verschlagen, weil er Arbeit in einer nahe gelegenen Papierfabrik gefunden hatte. Diesen Mann habe ich allein schon wegen seines einmaligen Idioms in Erinnerung, einer skurrilen Mischung aus Rheinisch und Wienerisch.
Ich rätsele bis heute, warum ausgerechnet er es war, der die Empörung der deutschen Grundbesitzerseele derart sichtbar auf die Spitze oder besser: auf den Pfosten getrieben hat. War es Überanpassung? Oder war der Pfosten Ausdruck einer eingeschleppten Wiener Missgunst?
Jedenfalls erging es dem Mann, wie es Exoten in Käffern zu ergehen pflegt: humoristisch, wobei die Lacher selten auf seiner Seite waren. So hatten etwa ein paar Spaßkanonen nächtens den Pfosten in aufrechter Stellung festgeschweißt. War das ein Hallo und Grüßgott am nächsten Morgen!
Ungleich rüder war da schon ein Scherz an dem Arbeitsplatz des geplagten Mannes. Seine Kollegen hatten ihm bei passender Gelegenheit den Haken eines Hallenkrans an den Gürtel gesteckt, ihn emporgehievt und schließlich zwei Meter über dem Boden hilflos zappelnd hängen gelassen. Eine ganze Mittagspause lang, bis sein Maschinenführer direkt unter dem Fluchenden stand und in die Runde fragte: »Hat wer den Schlawiner jesehen?«
Und auch hier rätsele ich: War das ein Akt des Rassismus? Oder hatte der Wiener auch auf der Arbeit einmal zu oft den Pfosten des deutschen Spießers aufgestellt? Die Karikatur seiner selbst sieht niemand gern.
Sinn und Wesen des Reißverschlusses
Wenn der Wiener so verdutzt ist, dass ihm nichts mehr einfällt, dann ist er schmähstad. Steht indes der Deutsche plötzlich sprachlos da, dann ist er baff. Der lautliche Unterschied könnte größer kaum sein: Während unsereins beim verdutzten Verstummen mit einem Geräusch implodiert, das aus einem Comic stammen könnte (Paff!), büßt der Wiener seinen Witz mit zähem ä und langem a ein.
Unlängst war ich in einem solchen Zustand, und da sich meine Sprachlosigkeit einer denkwürdigen deutschdeutschen Konfrontation verdankte, bestehe ich darauf, dass ich baff