Diese Deutschen. Dietmar Krug
hätte versorgen können. Die Reihe, in der ich stand, wurde dummerweise gleich von zwei Gängen gespeist, sodass sie nach kurzer Zeit begann, sich zu verdoppeln. Da sich aber die Kasse am Ziel nicht mit verdoppelte, entstand bald das akute Problem: Wer zuerst?
Nun lernt schon jeder deutsche Autofahrer in der Fahrschule, wie man so etwas akkurat und effizient löst: mit dem sogenannten Reißverschlussprinzip. Es ermöglicht, dass sich zwei Schlangen an einem neuralgischen Punkt brüderlich zu einer einzigen vereinigen. Lernt man das in Österreich eigentlich auch? Der Deutsche mit seinem natürlichen Hang zur Disziplin ist ja für so etwas wie geschaffen. Ist ein prima Prinzip, dieser Reißverschluss, jeder weiß exakt, wann er an der Reihe ist. Wären da nur nicht all die südländisch temperierten Quertreiber und Vordrängler, denen es an der nötigen Disziplin mangelt.
Doch zurück zu meinem baffen Moment. Kurz bevor meine Kassenschlange und die Reihe links neben mir auf den Punkt zusteuern, wo der Reißverschluss sich schließen sollte, beginnt sich rechts von mir eine dritte Schlange zu bilden. Was mir prinzipiell wurscht wäre, wenn die junge Frau da zu meiner Rechten nicht justament vor meinem Wagen um Einlass ränge. Also so nicht! Ja, kapiert die denn nicht, dass der Reißverschluss, der aus drei Linien besteht, noch nicht erfunden ist? Ein paar Stunden in einer deutschen Fahrschule, und die Ausreißerin wäre reif für Salomons Reißverschlüsse. Wetten?
Ich versuche der Frau klarzumachen, dass sie auf dem Holzweg ist und buchstäblich aus der Reihe tanzt. Und sie antwortet mit spöttischem Blick: »Ah ja? Na so was. Zu wenig Ordnung, was?« An ihrem »wenich Ordnung« erkenne ich, dass sie eine Deutsche ist. Dann schert sie aus der Reihe aus, dreht sich noch einmal um und sagt: »Übrigens: Gutes neues Jahr noch. Und nicht vergessen: Immer schön Ordnung halten!«
Da war ich baff. Was für eine Situation: Eine Deutsche wirft einem Landsmann vor, dass er sich typisch deutsch danebenbenimmt. Ohne es offen auszusprechen. Und das in einem Wiener Supermarkt.
Die Piefke Connection
Wen es in ein anderes Land verschlägt, der steht vor der Herausforderung, neue Freunde finden zu müssen. Einem Studenten fällt das in der Regel etwas leichter als einem Berufstätigen, die Uni ist eine weitere Welt als das Büro. Dennoch habe ich meine Freundschaften eher in Proberäumen als in Vorlesungssälen geschlossen, das verbindende Band war eine Band, die geteilte Liebe zur Musik. Ich wäre indes nie auf die Idee gekommen, das Gemeinsame in der Nationalität zu suchen. Das wäre auch nicht allzu vielversprechend gewesen, es gab damals in Wien nur eine Handvoll Deutsche.
Inzwischen leben allein in Wien über 40 000 von ihnen, und organisationsfreudig wie meine Landsleute nun einmal sind, bilden sie bereits deutsche Zirkel, das Internet macht’s möglich. Das größte Netzwerk für Deutsche in Österreich ist die »Piefke Connection Austria«, auf der Internetplattform »Xing« hat sie knapp zweitausend Mitglieder. Man trifft sich zu regelmäßigen Stammtischen und veranstaltet Events wie zum Beispiel Public Viewing bei Fußballspielen oder Partys, Grillfeste und Ausflüge. Gegründet hat die Gruppe Jockel Weichert, ein PR-Mann aus Schwaben. Ursprünglich nur, um bei der Fußball-EM 2008 einmal unangefeindet mit Landsleuten jubeln zu können, wenn ein Tor für die Deutschen fiel.
Die »Piefke Connection« dient aber nicht nur der Geselligkeit, sondern auch dem Karriere-Networking. Die Kontakte sollen nicht zuletzt dabei helfen, an Jobs heranzukommen, die ansonsten im Wiener Klüngel für Deutsche unerreichbar wären.
Interessant ist, dass es mittlerweile auch immer wieder Anfragen von Österreichern gibt, die der Gruppe beitreten wollen. Doch kein Leben ohne Regeln. Österreicher sind zwar auf den Events willkommen und sie können inzwischen auch einer Gruppe »Friends of Piefke Connection« beitreten. Aber echtes Mitglied der Connection kann nur ein echter Piefke werden. Damit hält Weichert sich die schmisstragenden Freunde des deutschen Blutes vom Leib und auch so manchen, den bloß der Glaube an die Effizienz der deutschen Netzwerker lockt – allerdings auch Leute, die uns Deutsche einfach mögen. Die soll’s ja geben.
Wie gut, dass ich nie die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt habe! Denn dann müsste ich die deutsche ablegen, und ich wäre allenfalls noch ein Kandidat für eine »Ex-Piefke Connection«.
Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn es vor zwanzig Jahren schon eine solche »Piefke Connection« gegeben hätte. Wäre ich ihr beigetreten? Dann wären meine ersten Freunde hier keine Steirer, Kärntner oder Wiener gewesen, sondern Schwaben, Pfälzer oder Rheinländer. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich dann meine Kolumne nie geschrieben hätte.
Heinz-Christian Straches kategorischer Imperativ
Der Obmann der Freiheitlichen hat sich in einem Ö1-Interview in die Untiefen der Philosophie begeben: Sein Plakatslogan »Liebe deine Nächsten – für mich sind das die Österreicher« sei nämlich gar keine religiöse Botschaft, Nächstenliebe sei ein allgemein menschlicher, ein philosophischer Wert. Und dann kam’s: »Nächstenliebe war ja ein wichtiger Wert der Aufklärung, auch bei Immanuel Kant, wenn es um seinen kategorischen Imperativ geht.«
Nun mag Straches plakatierte Mitteilung, wer für ihn die Nächsten sind, ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung sein, aber mit Immanuel Kant als Gewährsmann hätte er kaum herber danebengreifen können. Was ist eigentlich der berühmte kategorische Imperativ? Er lautet: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Etwas vereinfacht heißt das: Wenn ich im Zweifel bin, ob ich etwas stehlen soll oder nicht, dann muss ich mich nur fragen, ob ich wollen kann, dass alle Menschen stehlen. In dem Fall würde ich aber bald selbst nichts mehr besitzen. Ein Sittengesetz, das aus dieser Einsicht folgt, gilt für alle, ausnahmslos und überall, kategorisch eben.
Auf Straches Plakat angewandt, hieße das: Kann ich wollen, dass alle Menschen ihre Nächsten lieben und dabei zugleich alle Österreicher als die Nächsten betrachten? Das planetare Ausmaß an Liebe, das dann über Österreich hereinbrechen würde, wäre kaum auszuhalten. Die Zielgruppe der FPÖ sollte bedenken, dass mit diesen Plakaten ungeheure Migrantenströme nach Österreich gelockt werden. Denn wo sollen die auch sonst hin mit all ihrer kategorischen Nächstenliebe zu den Österreichern? Und dann kommen nicht nur weiße Frauen mit weißem Haar wie jene, die auf dem Plakat dem Strache das Bäckchen tätschelt.
Das Wort »kategorisch« empfinde ich als ein zutiefst deutsches, oder genauer: preußisches Wort. Im ostpreußischen Königsberg, das Kant zeitlebens kaum je verlassen hat, trieb er mit seinen Kategorien die deutsche Aufklärung auf ihre Spitze. Seine Morallehre ist eine reine Vernunfts- und Pflichtethik. Ist eine gute Tat einmal mit Gefühl und Neigung im Einklang, dann ist das eine zufällige Draufgabe, mehr nicht.
Kategorisch sagt man eher Nein zu etwas, nicht Ja. Darum eignet sich das Kategorische auch so gut für die protestantische Askese, in Österreich ist es, so scheint mir, überhaupt keine Kategorie. Hierorts von jemandem zu verlangen, etwas kategorisch zu behaupten oder auszuschließen, heißt, einen Menschen in tiefe Verlegenheit zu stürzen. Denn das Kategorische ist der Feind jeglicher Geschmeidigkeit, der Riegel für alle Hintertürchen, das definitive Ende der Maxime: Erst schauen wir mal, dann werden wir sehen.
4. Arbeitswelten
Deutsche Gastarbeiter
Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland fahre, freue ich mich auf ein kleines Ritual: den morgendlichen Brötchenkauf beim Bäcker, vor allem auf die Frage, ob ich noch weitere Wünsche hätte. Bei meinem Wiener Bäcker fragt man: »Außerdem?« und im Rheinland: »Darf et sonst no wat sein?« Die rheinische Variante löst in mir immer etwas Ambivalentes aus: zum einen den Zauber der Vertrautheit und zugleich – nach all den Jahren in Wien – ein inniges Gefühl dafür, wie seltsam das für einen Österreicher klingen muss. Ich fürchte, mir wachsen Wiener Ohrwascheln.
Seit meine Landsleute sich zu einer Völkerwanderung in Richtung Alpen aufgemacht