AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


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höchsten Glücksseligkeiten. Ja, vielleicht war dies sogar der Hauptgrund, warum er damals all die Qualen auf sich genommen und Freie Erde gegründet hatte.

      Kapitel 1

      Juni 1980

      Die Milch kam in länglichen Edelstahlkannen. Sein Vater füllte die Kannen lediglich halb voll, aber auch so konnte Henry sie kaum heben. Das kurze Stück vom Stall bis zum gepflasterten Weg, auf dem der Trecker wartete, wurde mit jeder Fuhre ein wenig länger. Henry hievte die schweren Behälter die kleine Rampe hinauf und schob sie hintereinander auf den Anhänger. Als er zum fünften Mal in den Stall zurück hastete, keuchte er bereits wie nach einem anstrengenden Dauerlauf. Sein Vater stand mit verschränkten Armen neben den Kühen und blickte ihn finster an.

       »Was dauert das so?«, brummte er, als Henry sich den nächsten Kanister griff. »Wenn du so trödelst, wird die Milch schon auf dem Weg schlecht.« Die Faust seines Vaters knallte gegen einen der hölzernen Balken der Scheune.

       Henry versuchte, noch einen Zahn zuzulegen. Sein Alter hatte wieder dieses Glänzen in den Augen. Das war nicht gut. Immer wenn seine Augen schimmerten, als würde jeden Moment ein nicht enden wollender Tränenfluss daraus explodieren, bestand Gefahr. Dann fing sein Vater nämlich gerade an, sich über irgendetwas furchtbar aufzuregen. Und wenn sein Alter miese Laune hatte, war meist Henry der Leidtragende.

       Als die nächste Milchkanne auf der Ladefläche stand, lief Henry zurück in den Stall, als wäre der vor Jahren ausgewilderte Hund des weit entfernten Nachbarhofes hinter ihm her. Mit seiner Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn und bückte sich nach einer weiteren Kanne. Genau in diesem Augenblick setzte sein Vater sich in Bewegung und stürmte auf ihn zu.

       »Du kleiner Scheißer bist zu lahm«, schrie der Alte mit überschnappender Stimme. »Ich kann dem Milchhof keine H-Milch verkaufen.«

       Nur Sekunden später spürte Henry einen dumpfen Schmerz. Sein Vater hatte ihm mit Wucht in den Hintern getreten. Das machte er gerne und beinahe täglich. Schnell umklammerte Henry eine der sechs verbliebenen Kannen und begab sich auf den Weg zum Trecker. Wenn sein Vater sich ärgerte, verhielt man sich lieber vollkommen unauffällig und tat so, als wäre überhaupt nichts gewesen.

       Fast hätte er den Anhänger ohne weitere Zwischenfälle erreicht. Doch kurz bevor Henry seine schwere Last abstellen konnte, bekam er den nächsten Tritt verpasst. Sein Vater knurrte wie ein tollwütiger Hund, und Henry verlor das Gleichgewicht. Die Milchkanne schepperte auf die Ladefläche und riss zwei danebenstehende Kannen um. Die weiße und noch warme Flüssigkeit verteilte sich auf dem halben Pritschenwagen und Henrys Hose wurde klamm. Ein ärgerliches Heulen hinter ihm ließ ihn automatisch die Arme um das Gesicht schlingen. Henry hatte inzwischen gelernt, sich zu schützen. Eine wütende Formation ungenauer aber harter Schläge prasselte auf ihn ein. Hätte er mit den Armen nicht so eine schützende Barriere gebildet, hätten die Fausthiebe seines Vaters mit Sicherheit mehr Schaden angerichtet. So aber ließ der Alte nach einigen Minuten von ihm ab und stapfte wutentbrannt in den Stall.

       Henry zögerte nicht lange, sprang auf die Beine und rannte hinüber zum Wohnhaus. Wenn sein Vater ihn noch einmal zu Gesicht bekäme, würden die Schläge heftiger werden. Da half es auch nichts, sich unverzüglich wieder an die Arbeit zu machen. Sinnvoller war es, den Alten in den nächsten Stunden zu meiden. Und das ging am einfachsten im Haus, in dem seine Mutter das Regiment führte. Vielleicht würde sie ihn in Ruhe lassen und er konnte unbehelligt mit seinen Schulaufgaben anfangen.

      Nachdem Henry einen schnellen Blick in die Küche geworfen hatte, schlich er die Treppe hoch. Seine Mutter war nirgendwo zu entdecken. Ein finsterer, schlauchartiger Flur führte durch das Obergeschoss. Es gab auf dem Weg lediglich eine winzige Dachluke, durch die höchstens eine ausgemergelte Katze gepasst hätte. Das milchig weiße Glas war seit Jahrzehnten nicht mehr gereinigt worden und ließ selbst im strahlendsten Sommer keinerlei Helligkeit hindurch. Henry bewegte sich dennoch geschwind und sicher über den Korridor. Wären nicht sämtliche Zimmertüren geschlossen gewesen, hätte das Licht, das durch die Fenster der Räume hineinfiel, für etwas Auflockerung gesorgt, aber aus irgendeinem Grunde hasste seine Mutter offenstehende Türen. Es gab keine Tür im Haus, die grundlos geöffnet sein durfte. Als Henry noch jünger gewesen war, hatte er mitunter bitter für seine Unachtsamkeiten bezahlen müssen. Es kam vor, dass es ihn auf die Wiese zum Spielen zog, und er einfach vergaß, seine Zimmertür beim Verlassen des Raumes zu schließen. Seine Mutter wartete stets an der Haustür und begrüßte ihn mit Ohrfeigen, wenn so etwas geschah.

       Sein Zimmer war das kleinste im Obergeschoss. Unmittelbar im Anschluss an die beiden Gästezimmer, die eigentlich immer leer standen, schloss sich seine Kammer an. Neben dem schmalen Bett befand sich nur ein Nachtschränkchen in dem komplett fensterlosen Raum. Gern hätte Henry auch einen Schrank besessen, aber dafür war der Platz nicht ausreichend. Seine wenigen Kleidungsstücke hingen in einem windschiefen Schrank im Gästezimmer, in dem seine Mutter sonst nur alte, ausgediente Jacken verstaute. Dennoch durfte er den Schrank dort nicht ohne Aufsicht öffnen. Überhaupt durfte Henry nicht mal ohne Erlaubnis das Zimmer betreten. Seine Mutter war der Meinung, dass Kinder ständig Schmutz mit ins Haus brächten und deshalb möglichst nirgendwohin gehen sollten. Seine Kammer war der einzige Raum, zu dem er ungehindert Zutritt hatte, das Badezimmer einmal ausgenommen.

       Henry schaltete das Licht ein, ließ sich aufs Bett fallen und angelte nach seinem Schulranzen, der sich darunter befand. Schulaufgaben machte er stets im Bett. Seine Eltern hielten nichts davon, Kindern bereits einen Schreibtisch zur Verfügung zu stellen. Vater vertrat die Ansicht, dass jemand, der an einem Schreibtisch saß, auch für seinen Lebensunterhalt aufkommen konnte.

      Während Henry das Matheheft aufschlug, betrachtete er seine Hose. Die Milch war inzwischen angetrocknet und bildete eine schmierige Kruste auf dem Stoff. Vielleicht war es vernünftiger, sie auszuziehen. Er sprang auf und öffnete den Gürtel. Gerade, als die Hose an seinen Beinen hinunterrutschte, wurde die Zimmertür geöffnet und seine Mutter stand an der Schwelle.

       »Die Tür war nur angelehnt«, sagte sie drohend und blinzelte, wahrscheinlich, um sich an das grelle Licht der nackten Glühbirne zu gewöhnen. Dann fiel ihr Blick auf Henry und schlagartig weiteten sich ihre Augen.

       »Was machst du da?«, fragte sie erstaunt. »Spielst du etwa an dir herum?«

       Henry, der mit dieser Bemerkung nichts anfangen konnte, bückte sich und hob die Hose auf.

       »Da sind Flecken drauf«, stellte er fest und fuhr mit den Fingern über den Stoff. Seine Mutter schnappte überrascht nach Luft.

       »Du bist erst acht«, sagte sie aufgebracht. »Mit acht habe ich meinen Körper noch zufriedengelassen.«

       Wieder wusste Henry nicht, was ihm dieser Kommentar sagen sollte. Doch ihm war klar, dass seine Mutter allmählich wütend wurde. Ängstlich blickte er auf ihre Armmuskeln, die sich immer wieder an- und abspannten. Ihr Tattoo, das mit verschnörkelten Buchstaben die Wörter Ewige Liebe bildete, wirkte, als hätte es ein Eigenleben bekommen.

       »Ich werde dich lehren, was es heißt, den eigenen Körper zu beschmutzen«, sagte sie und schloss gewissenhaft die Tür, bevor sie sich ihm näherte. Henry ging instinktiv einen Schritt zurück, überlegte, ob sein Vater schon gepetzt hatte, und fragte sich, warum er noch einmal für die verschüttete Milch bestraft wurde.

       Seine Mutter hatte ihn an den Haaren gegriffen und ihn aufs Bett geschubst. Sie war groß und breit und manchmal hatte Henry den Eindruck, dass seine Mutter sogar stärker als sein Vater war. Henry spürte einen brennenden Schmerz auf der Wange und innerlich wappnete er sich für die nächste Schelle, aber stattdessen griff ihre Hand fest in seinen Schritt.

       »Sieh an, die Unterhose ist nicht klebrig. Haste rechtzeitig runtergezogen, was?«

       »Nein«, brachte Henry hervor und überlegte fieberhaft, wie er seiner Mutter hätte gerecht werden sollen. Ihm war doch vorher nicht klar gewesen, dass die Milch auskippen würde. Wie sollte er da die Unterhose in Sicherheit bringen? Außerdem war der Stofffetzen gar nicht schmutzig. Das gab alles überhaupt keinen Sinn.

       Seine Mutter riss die Unterhose ganz von seinen Beinen und grapschte erneut in seine Mitte. Ihre Finger schlossen sich um seine empfindlichen Stellen und Henry stöhnte kläglich.

      


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