AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


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der übrigen Räume führten auf einen zweiten Flur, der parallel verlief. An dessen gegenüberliegender Seite schloss sich die dritte Reihe Zimmer an, gleichfalls sechs.

       Die Gänge waren sehr schmal. Wäre Aldiana ein Mädchen oder ein Junge entgegengekommen, hätten sie sich beide seitwärtsdrehen und mit dem Rücken an die Wand pressen müssen, um aneinander vorbeizukommen.

       Aldiana verzog den Mund. Je größer sie wurde, umso beengter kam ihr dieser Flur vor. Früher hatten ihr die Korridore keine Angst gemacht, doch mittlerweile fiel ihr jedes Mal ein Stein vom Herzen, wenn die Tür zum Vorraum in greifbare Nähe kam. Wie gut, dass niemand der anderen Bewohner von diesen Ängsten wusste.

       Aldiana öffnete die milchige Kunststofftür und verließ den Wohntrakt. Sie hob den Kopf und schaute auf den sich langsam drehenden Ventilator. Am gegenüberliegenden Ende des weitläufigen, rechteckigen Raumes befand sich die Verschlossene Tür. Die Tür bestand aus dunkelrotem Edelstahl und war mit einem dicken Schloss gesichert. Die Schlüssel dazu gab der König nie aus der Hand. Man munkelte sogar, dass er den Bund selbst beim Sex nicht aus den Fingern legte. Aldiana konnte das kaum glauben. Welcher Mann würde Liebe machen mit einem Schlüsselbund in den Pfoten? Ihr war es bisher erspart geblieben, in die Gemächer des Königs gerufen zu werden. Aber Fenja war schon unzählige Male dort gewesen und sie hatte erzählt, dass es sich ganz genauso verhielt.

      Ein sechs Meter langer, röhrenartiger Gang knickte nach links ab. Aldiana schaute konzentriert auf den Boden. Man musste höllisch aufpassen, jeden Schritt mit Bedacht setzen. Die Röhren waren am unteren Ende nicht abgeflacht und man konnte sich schnell die Füße verstauchen, wenn man schief aufkam.

       Wenigstens war es ihr noch möglich, die Gänge aufrecht zu durchqueren. Einige der Erwachsenen konnten nur halb gebückt hindurchschleichen.

       Der Weg führte direkt in die mittlere der drei Hauptebenen des Bunkers. Zu ihrer Rechten befand sich der Tisch, an dem alle Bewohner ihr Abendessen einnahmen, wenn der König zugegen war. Links schloss sich der Aufenthaltsbereich an. Eine breite Regalwand säumte eine der Seitenwände und war vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften. Mehrere Sofas, vier Sessel und kleine Beistelltische standen ungeordnet im Raum herum. Die Erwachsenen vertrieben sich hier am Abend gern die Zeit.

       Jetzt war die Ecke verwaist. Wer nicht auf seinem Zimmer war, befand sich höchstwahrscheinlich schon im Trainingsraum. Zwar gingen die Kämpfe erst mit ihrem Duell gegen Alona los, aber auch die anderen Mädchen und Jungen kamen heute zum Einsatz. Und die meisten ihrer Mitstreiter schauten sich sämtliche Kämpfe an, selbst wenn sie ihre Aufgabe längst erledigt hatten oder viel später an der Reihe waren.

       Aldiana konnte das nie so richtig nachvollziehen. Es bereitete ihr kein Vergnügen, den übrigen bei den Balgereien zuzusehen. Da ging sie lieber zurück ins Zimmer und las ein Buch. Selbst Alonas Einwand, man müsse die Kampftechnik der Gegner kennen und sich einprägen, zählte in ihren Augen nicht als Argument. Wer hart trainierte, würde auch gewinnen. Unabhängig davon, ob man den Stil des Widersachers kannte oder nicht. Qualität setzte sich immer durch. So einfach war das.

      Direkt gegenüber führte der nächste Röhrengang in die dritte und wichtigste Ebene des Komplexes. Hier befanden sich nicht nur die Badezimmer und Toiletten, sondern auch der Trainingsraum.

       Dort würden die heutigen Auseinandersetzungen stattfinden.

       In dem Flur, der Trainingsraum und Nassbereich voneinander trennte, traf Aldiana auf Bela und Belos. Die Geschwister hielten sich an den Händen und gaben sich gegenseitig Mut, indem sie leise aufeinander einredeten. Aldiana grüßte die beiden und stieß die milchig weiße Kunststofftür auf.

       Der Raum war gut besucht. Die Trainingsgeräte, die sonst über den vorne standen, waren an die Wände gerückt worden. Dahinter leuchtete die blaue, kreisrunde Matte einladend zu ihr herüber. Nachdem Aldiana einen kurzen Blick auf die Zuschauer geworfen hatte, entdeckte sie Alona, der im Schneidersitz ganz am Ende der Matte saß. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen zusammengepresst. Er konzentrierte sich. Als Aldiana auf ihn zuging und ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte, blickte Alona zu ihr auf und begann augenblicklich zu lächeln. Dann wurde sein Ausdruck unsicher und es schien, als fürchtete er sich. Blitzschnell beugte Aldiana sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

       »Ich mag dich«, stellte sie dabei hauchend fest.

       Alona lächelte noch eine Spur breiter und erhob sich schwerfällig. Obwohl er nur ein halbes Jahr älter war, war er bestimmt fünf Zentimeter größer. Aldiana nahm sich vor, diese Tatsache während des Kampfes nicht zu vergessen.

      Christina stand auf und breitete die Hände aus. Aldiana schaute sich verstohlen um. Wenn ihre Mutter die heutigen Kämpfe eröffnete, dann war der König nicht da. Irgendwie gab ihr das ein befreiendes Gefühl. Aldiana mochte es nicht, wenn der König bei den Auseinandersetzungen zugegen war. Seinem Blick haftete stets etwas Schmieriges an. Man fühlte sich befleckt, wenn die gierigen Augen des Herrschers auf einem lasteten. Zumindest empfand es Aldiana so. Ob auch einzelne der anderen Mädchen oder Jungen ähnlich dachten, wusste sie nicht. Nie würde Aldiana ihre Empfindung öffentlich aussprechen. Es war ungehörig, schlecht über den König zu denken. Immerhin hatte er die Erwachsenen vor dem sicheren Tod gerettet.

       Nachdem das Gefecht eröffnet worden war, ging Aldiana sofort zum Angriff über. Alona war ihr schon immer so nah wie ein Bruder gewesen, aber heute durften diese Gefühle keine Rolle spielen. Alona war ein schneller Kämpfer, sicherlich einer der Besten von allen. Dennoch schien er nicht ganz bei der Sache zu sein. Ihre Fausthiebe wehrte Alona nur halbherzig ab, von Gegenschlägen sah er fast völlig ab. Als Alona nach hinten auswich, stellte Aldiana ihm ein Bein und der Junge fiel rücklings auf die Matte. Flink war Aldiana auf ihm, beugte sich vor und ballte die Hand zur Faust. Alona verzichte auf jegliche Verteidigung, sie hätte ihm mit Leichtigkeit die Visage blutig schlagen können. Doch im letzten Moment bremste Aldiana die Bewegung ab. Dieses schöne, ebenmäßige Gesicht konnte man nicht so ohne Weiteres kaputthauen. Alona bemerkte ihre Zweifel und seine Augen blickten streng.

       »Du musst«, zischelte er leise.

       »Niemals«, flüsterte Aldiana zurück.

       »Du bekommst sonst eine Strafe.«

       »Mir egal.«

       »Du wanderst in die Zelle.«

       »Dann muss es so sein.«

       Alona gab ein lang gezogenes Seufzen von sich. Plötzlich bäumte sich sein Körper auf und seine Beine spannten sich an. Ehe Aldiana reagieren konnte, verlor sie den Halt und rutschte von ihm herunter. Aus den Augenwinkeln sah sie einen schwarzen Schatten auf sich zurasen. Sekunden später traf etwas mit gewaltiger Kraft ihren Kopf und Aldiana fiel ohnmächtig auf die Matte.

      Kapitel 3

      September 1980

      Es war nicht zu glauben, wie schnell Unkraut wachsen konnte. Henry hatte doch gerade erst vor zwei Wochen etliche Kübel von diesen biestigen Pflanzen aus der Erde gezogen. Und nun war der halbe Kräutergarten seiner Mutter erneut überwuchert. Er riskierte einen Seitenblick zu seinem Vater, der eben vier leere Eimer vom Trecker schmiss.

       »Die wirst du brauchen«, rief er vom Führerhaus herab und grinste breit. »Ich komme in 'ner Stunde wieder und kontrolliere das Feld. Dann will ich kein Unkraut mehr sehen.«

       Henry sammelte die Eimer auf und sah sich um. Er musste sich verdammt sputen. Eine einzige Stunde war knapp bemessen. Andererseits, wenn es ihm gelang bis dahin fertig zu werden, konnte er früher zurück in sein Zimmer und hatte länger Freizeit.

      Henry arbeitete so schnell wie möglich. Bereits nach zehn Minuten war der erste Behälter bis oben hin gefüllt mit klein- und großblättrigen Unkrautpflanzen, die eines gemeinsam hatten: dicke, weiße Wurzeln, die sich wie Klebstoff im Boden festkrallten. Nach einer Dreiviertelstunde waren sämtliche Eimer randvoll und Henry musste die übrigen Pflanzen auf einen Stapel am Anfang des Weges aufschichten. Als der dröhnende Treckermotor langsam lauter wurde, schaute Henry schweißgebadet auf die Armbanduhr. Es waren knapp 53 Minuten vergangen, der Alte kam absichtlich zu früh. Doch das war heute ausnahmsweise egal. Henry richtete sich auf und sein Blick wanderte über den Kräutergarten. Das, was jetzt


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