AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


Скачать книгу
gepresst. Henry wollte zu einer Antwort ansetzen, aber der Griff ihrer Hand wurde sogar noch stärker. Ein kalter Schmerz durchzuckte seine Lenden. Zuletzt war ihm etwas Ähnliches widerfahren, als sie in der Schule Fußball gespielt hatten und der Ball mit ganzer Wucht gegen ihn geprallt war.

       »Nein«, schrie Henry und die ersten Tränen sammelten sich in den Augen. Wie konnte seine Mutter nur annehmen, dass ihm diese Qual gefallen würde?

       Plötzlich lockerte sich ihr Klammergriff. Sie hob die Hand zur Nase und roch daran.

       »Du scheinst ja wirklich noch unschuldig zu sein«, stellte sie flüsternd fest.

       Henry kam es so vor, als wäre ihr diese Feststellung kein bisschen angenehm. Ihm war vollkommen unbegreiflich, was seine Mutter eigentlich von ihm wollte, aber er nickte energisch. Unschuldig hörte sich gut an. Wer unschuldig war, musste nicht verprügelt werden.

      Seine Mutter starrte ihn einen weiteren Moment an und begann dann zu lächeln. Henry kannte dieses Lächeln. So schaute sie immer, wenn ihr etwas nicht passte, sich aber gerade keine Gelegenheit bot, dagegen anzugehen. Insbesondere bei den Auseinandersetzungen mit seinem Vater zeigte sie oftmals diesen Gesichtsausdruck, der Henry stets an eine verrückt gewordene Henne erinnerte. Ohne ein Wort zu sagen, sprang sie auf und öffnete die Zimmertür. Doch anstatt hinauszugehen, wartete sie an der Türschwelle und horchte auf den stillen Flur hinaus. Als seine Mutter sich umdrehte und die Tür wieder ins Schloss fallen ließ, lag ein Ausdruck in ihren Augen, den er vorher noch nie gesehen hatte.

       »Ich werde jetzt austesten, wie schmutzig du tatsächlich schon bist.«

       Instinktiv wollte Henry aufstehen und nach der Unterhose greifen, doch wenn es darauf ankam, war seine Mutter sehr athletisch. Sie hatte jahrelang Kampfsport gemacht und man durfte sich von ihrer leicht pummeligen Gestalt nicht täuschen lassen. Mit einer geschmeidigen Bewegung war sie bei ihm, bevor er sich überhaupt halb aufgerichtet hatte, und vergrub ihre Hand ein weiteres Mal in seinen Haaren.

       Sie riss ihn grob zurück auf die Matratze.

       »Wenn du dich wehrst, haue ich dich windelweich.«

       Ihre Hand wanderte erneut in seinen Schritt. Einen Augenblick befürchtete Henry, wieder diesen allumfassenden Schmerz zu spüren, doch die kräftigen Finger legten sich diesmal nicht um all seine empfindlichsten Teile. Stattdessen begannen sie, an seinem Pillermann zu spielen. Ihre Hand knetete ihn zuerst ganz zart, als bestünde er aus zerbrechlichem Porzellan. Doch schon kurze Zeit später wurden die Bewegungen fordernder. Ihre Hand fuhr immer schneller auf und ab und ihre Atmung wurde synchron dazu merklich hektischer. Als Henry fragte, was das zu bedeuten hätte, schlug ihm seine Mutter mit der freien Hand auf die Wange.

       »Halt den Mund und stör mich nicht, sonst schlag ich dir die Zähne aus.«

       Zitternd verstummte Henry und starrte auf die vom Solarium braun gebrannten Arme der Frau über ihm. Das verschnörkelte Tattoo begann, sich rhythmischer zu bewegen, und kleine Schweißperlen liefen ihr den Bizeps hinunter.

      Kapitel 2

      April 2003

      Aldiana saß auf der Matratze und blickte sich um. Viel zu entdecken gab es in ihrem kleinen, quadratischen Zimmer nicht. Neben der Matratze, die als Schlaf- und Sitzgelegenheit gleichermaßen fungierte, gab es ein mannshohes, hölzernes Regal, in dem ihre Kleider und ihre persönlichen Sachen lagen. Eine dimmbare Stehlampe gab angenehmes, gedämpftes Licht. Der neue, beigefarbene Anstrich der Wände gefiel ihr, auch wenn sich der Ton ein wenig mit den terracottafarbenen Fußbodenfliesen biss. Durch die Schlitze in der Tür wehte ein lauer Luftzug. Wahrscheinlich war der gewaltige Ventilator eingeschaltet worden, der sich im Flur vor den Privaträumen befand. Früher hatte Aldiana vor diesem monströsen Ding tatsächlich Angst gehabt. Jedes Mal, wenn sie darunter stand, kam ihr der Gedanke, wie ihr Körper von den mehr als zwei Meter großen Flügeln hinaufgezogen und zerfetzt wurde. Leider hatte sich diese Furcht in den vergangenen Jahren auch nicht gegeben. Selbst heute noch trat Aldiana mit einem unguten Gefühl in den Flur, wenn der Ventilator lief. Und das, obwohl vor einer Woche schon ihr zwölfter Geburtstag gefeiert wurde. Wie gut, dass niemand von dieser Beklommenheit wusste. Glücklicherweise schaltete der König das Ding nur ein paar Stunden am Tag an.

      Ihr Blick fiel auf die Handschuhe, die lediglich die Handflächen und -ballen verdeckten, den Fingern aber keinen Schutz boten. Christina hatte mal den Begriff Fahrradhandschuh benutzt. Aldiana dachte an das Bild eines Fahrrads, das sie in einer Illustrierten gesehen hatte. Warum brauchte man Handschuhe dafür? Früher durften bei jedem Kampf richtig gepolsterte Handschuhe verwendet werden, Boxhandschuhe nannte sie der König. Aber seit einem Jahr war es vorbei mit dem Luxus. Die Boxhandschuhe wurden von ihm persönlich eingesammelt und durch diese neuen Dinger ersetzt. Aldiana hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Das Zuschlagen fühlte sich so vollkommen anders an, wenn man mit ungeschützten Fingerkuppen auf den Gegner eindrosch. Irgendwie war man viel näher dran am Geschehen. Außerdem wurde einem klar, dass ein Gesicht aus einer Menge Knochen bestand. Man musste die Schläge sauber setzen. Selbst wenn man dem Rivalen blutende Wunden zufügte, konnten die eigenen Finger ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden, sollte man frontal auf einen der unzähligen Gesichtsknochen treffen.

       Wie gut, dass täglich geübt wurde. Obwohl sie auf das heutige Match überhaupt keine Lust hatte. Alona war ihr Kontrahent. Er war zweifellos einer der nettesten Jungs hier unten. Aldiana kam prima mit ihm aus. Oft saßen sie gemeinsam im Ruheraum und erzählten sich gruselige Geschichten oder trainierten zusammen an den Geräten, wenn die anderen schon längst ins Bett gegangen waren.

      Ihre Zimmertür öffnete sich und Aldiana hörte das laute Brummen des Staubsaugers, noch ehe sie das hellblaue Ungetüm sah. Andrea machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen. Wenn Andrea Reinigungsdienst hatte, schneite sie einfach in die Zimmer, als würde es keine Privatsphäre geben. Auch jetzt nickte die Alte ihr nur einmal flüchtig zu, bevor sie in den Raum gestürmt kam. Aldiana schaute den Staubsauger skeptisch an. Ihr war das Monstrum nicht geheuer. Der König hatte ihn erst letztes Jahr aufgetrieben. Er hatte zwar hoch und heilig versprochen, dass das Gerät nicht verstrahlt sei, aber Aldiana hatte Zweifel. Woher sollte der König plötzlich eine unverseuchte Maschine haben? Bestimmt war das Teil auf irgendeine Weise doch kontaminiert und mit Sicherheit war es gefährlich, sich auf Dauer in seiner Nähe zu befinden. An Andreas zerknirschtem Gesichtsausdruck meinte Aldiana zu erkennen, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Nur gut, dass ausschließlich die Alten für die Reinigungsarbeiten zuständig waren.

      Aldiana hob die Beine an, als das Teleskoprohr des Saugers um ihre Füße huschte. Andrea war nicht allzu gründlich, was das Reinigen der individuellen Räume anging. Wesentlich mehr Augenmerk legte sie auf die Pflege der öffentlichen Bereiche, was letztendlich auch kein Wunder war, denn diese Orte fielen dem König zuerst ins Auge. Obwohl es natürlich nicht so war, dass der König nie ungefragt in Privaträume ging. Gerade in den Abendstunden und nachts hörte Aldiana ihn oft durch die Gänge schleichen und Türen öffnen.

       Nachdem Andrea wieder abgezogen war, fiel ihr Blick auf die Digitaluhr mit den grünen Leuchtbuchstaben. Jedes Privatzimmer war mit so einer Uhr ausgestattet und der König hatte noch weitere auf Lager, falls Geräte ausfielen. Aldiana hatte sich schon oft gefragt, warum jemand mehrere Dutzend Digitaluhren besitzt und diese sogar vor dem Atomkrieg schützt. Höchstwahrscheinlich hatte der König einfach vorausgedacht. Ihm war es gelungen, eine Menge nützliche und wichtige Teile vor der Kontamination zu retten. Der König war weitsichtig und weise. Zumindest sagten das alle.

       Ihr blieben noch zehn Minuten. Höchste Eisenbahn, mit dem Aufwärmen zu beginnen. Natürlich stand ihnen vor dem Kampf ausreichend Zeit zur Verfügung, sich zu dehnen und in Form zu kommen, doch Aldiana hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das Aufwärmprogramm bereits in ihrem Zimmer zu starten.

      Als Aldiana aus der Tür trat und nach links schwenkte, hatte sie die verstümmelten Handschuhe schon übergezogen. Ansonsten gab es nichts, was zum Kampf mitgebracht werden musste. Sie zogen sich für die Auseinandersetzungen nicht extra um. Warum auch? Die engen Trikots in Verbindung mit den kurzen Shorts, die auf Geheiß des Königs ständig zu tragen waren, eigneten sich ideal dafür. Nur zum Schlafengehen durften sie ihre Nachtkleidung anlegen.

       Aldiana schritt den Flur ab. Ihr


Скачать книгу