AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


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gewann er ihr sogar das eine oder andere Positive ab. Ein dunkles Zimmer hatte etwas Tröstliches. Man konnte sich so wunderbar in ihm verbergen, die ganze gemeine und unverständliche Welt da draußen einfach hinter sich lassen und vergessen.

       Henry schloss die Tür und ging die zwei Schritte zum Bett praktisch blind. Sofort überkam ihn ein angenehmes Gefühl. Die Dunkelheit umgab ihn, schützte ihn und spendete Trost. Er ließ sich aufs Bett fallen und atmete mehrmals aus und ein. Allmählich versiegten seine Tränen. Nur das unangenehme Pochen in der Lippe konnte auch die Düsternis nicht vertreiben. Dennoch fühlte er sich mit der Zeit besser. Irgendwann schaltete Henry das Licht an. Grell und kalt strahlte die Birne in seine Augen. Manchmal wünschte er sich eine Lampe zum Dimmen. Die könnte man ganz schwach einstellen, um die Schatten nicht komplett zu verjagen. Dann wäre es im Zimmer gleichzeitig dunkel und hell, eine wahrlich königliche Beleuchtung.

       Seufzend langte Henry nach den Büchern unter dem Bett. Anhand der Größe und Dicke erkannte er seine Lieblingsbücher mittlerweile, ohne hinzugucken. Sein Blick fiel auf den zerknickten Umschlag des einen Buches. Im Hintergrund war eine imposante Burg gezeichnet, beflaggt mit den buntesten Fahnen. Im Vordergrund stand der König der Burg. Er lächelte freundlich und neben ihm sprang ein kleiner Hund übermütig in die Luft. Eine schöne Prinzessin saß zu seiner Linken und reichte ihm etwas, das für Henry wie ein lecker belegtes Sandwich aussah.

       Fasziniert blätterte er das Buch auf. Ein König verfügte über ungeheures Ansehen. Jeder im Königreich verehrte ihn. Außerdem war ein König unglaublich mächtig. Henry schaute auf sein Lieblingsbild, das den König im Kampf mit einem schrecklichen Drachen zeigte. Natürlich siegte der Herrscher und das Volk bereitete ihm einen überwältigenden Empfang bei seiner glorreichen Rückkehr.

       Anschließend kam das zweite Buch an die Reihe. Auch diese Geschichte handelte von einem weisen König, der allerhand Abenteuer bestehen musste. Obwohl die Figur ebenfalls nur gezeichnet war, kam sie Henry so realistisch vor, als könnte sie sich gleich vom Papier lösen und durch sein Zimmer schreiten. Der wallende Umhang schien auf jeder Seite in einem anderen dunklen Rotton zu leuchten. Die Bewohner seines Reiches blickten oft traurig und verzweifelt, bis der König auf der Bildfläche erschien. Dann war die Freude groß und der König kümmerte sich um die Probleme eines jeden Einzelnen.

       Mit dem Handrücken wischte Henry sich über sein zerschundenes Gesicht und begann zu lächeln. Ein König müsste man sein! Was musste es bloß für ein unglaublich tolles Gefühl sein, von vielen Menschen geliebt zu werden? Bestimmt waren auch die Eltern eines Königs stolz auf ihren Sohn. Und alle Leute würden ihm mit Respekt und Wohlwollen begegnen. Konnte es etwas Schöneres geben?

       Henry klappte die Bücher zu und verstaute seine Schätze wieder unter dem Bett, ganz hinten, damit sie keinen Schaden nahmen, was auch immer sich in Zukunft noch in seinem Zimmer abspielen mochte.

      Kapitel 4

      April 2003

      Aldiana dröhnte der Kopf, als ihre Augen sich öffneten. Einen schrecklichen Moment lang war ihr nicht genau bewusst, wo sie sich befand. Dann erkannte sie den Trainingsraum und die bekannten Gesichter. Alona musste ihr einen ziemlich perfekten Schlag verpasst haben. Bisher war es ihr noch niemals passiert, während eines Kampfes ausgeknockt zu werden. Aldiana richtete sich auf und schaute interessiert auf die anwesenden Zuschauer. Wo war Alona? Einen Augenblick lang wurde sie böse auf ihn. Wie konnte er ihr nur so eine Schelle verpassen? Doch nach wenigen Minuten war ihre Wut bereits wieder verflogen. Was sollte der arme Kerl denn machen? Sie hatte es ja nicht übers Herz gebracht, ihn zu verletzen. Die Möglichkeit dazu war ja durchaus vorhanden gewesen.

       Leider befand sich Alona nicht mehr unter den Anwesenden. Das war ungewöhnlich für ihn. Normalerweise verpasste er keinen der Kämpfe. Gern wäre sie jetzt zu ihm gegangen und hätte ihm gesagt, dass sich an ihrem freundschaftlichen Verhältnis nichts ändern würde.

       Ein gemeines Lachen holte Aldiana aus den Gedanken. Zwei Mädchen schlugen wild aufeinander ein. Wobei, genau genommen war es ausschließlich Delia, die wie besessen auf ihre Gegnerin eindrosch. Bela hatte kaum eine Chance gegen die ältere und größere Delia. Dennoch dachte die Braune nicht daran, Mitleid zu zeigen. Dieses Wort war ihr fremd.

       Aldiana mochte Carmens Tochter nicht. Irgendwie war Delia ihr schon zeitlebens zuwider gewesen. Glücklicherweise beruhte diese Empfindung auf Gegenseitigkeit. Das hatte Vorteile. So musste sich keine von ihnen verstellen.

       Delia saß auf ihrer Kontrahentin und schlug der hemmungslos heulenden Bela immer wieder auf den Mund.

       »Ich haue dir heute mindestens zwei Zähne raus«, stellte Delia dabei belustigt fest. »Oder ich mach dir 'ne tiefe Narbe, die dich noch mehr nach Scheiße aussehen lässt.«

       Aldiana hatte genug gehört und sprang auf die Beine. Augenblicklich wurde ihr schwindelig. Während sie eine Hand an die Schläfe presste, stieß sie mit der anderen die Tür auf. Hinter ihr gab es einen klatschenden Laut. Kurz drauf hallte Belas ohrenbetäubender Schrei durch den Raum, dann war erneut Delias hämisches Lachen zu hören.

       »Ich bin längst nicht mit dir fertig, Schlampe«, rief Delia mit überschnappender Stimme. »Ich quäl dich jetzt, solange ich darf.«

       Eine aufkeimende Übelkeit machte sich in Aldianas Magen breit. Ihr war nicht klar, ob das an Delias Worten lag oder an den Auswirkungen von Alonas K.-o.-Schlag. Wenn einer der Kämpfer sehr dominant war und schnell überhand bekam, so durfte er maximal eine halbe Stunde lang auf sein Opfer einwirken. Dann musste das Gefecht abgebrochen werden. In der Praxis kam es so gut wie nie zu solchen Extremsituationen. Sie waren alle ungefähr gleichstark und hörten in der Regel auf, den Gegner zu traktieren, wenn er mit blutüberströmtem Gesicht und heulend auf der Matte lag. Nur Delia hielt sich nicht daran. Sie trainierte jeden Tag bis zum späten Abend und war sogar stärker als die meisten Jungen. Ihr war das Wort Gnade fremd. Wenn Delia sich mit jemandem schlug, gab es ernsthafte Verletzungen bei den Rivalen. Sie war ausgesprochen sadistisch veranlagt und brach ein Duell nie vorzeitig ab, egal wie schlimm es um den Unterlegenen stand.

       Aldiana hasste Delia dafür. Sie hasste Delia auch noch aus ein paar anderen Gründen. So war Delia praktisch nie freundlich. Oft begann sie Streitereien aus den nichtigsten Anlässen und dann waren sogar die Erwachsenen nicht vor ihrer Wut sicher. Viele der Bewohner hatten Angst vor ihr. Dem König hingegen gefiel Delias Art anscheinend sehr. Das war der nächste Grund, weshalb Aldiana die Braune nicht ausstehen konnte. Delia prahlte oft damit, wieder einmal in seinen Gemächern gewesen zu sein. Was sie dort tat, wollte Delia allerdings nie erzählen. Warum mochte der König so ein durchtriebenes Luder? Das war nicht fair.

       Die Tür zum Trainingsraum schloss sich und Delias Stimme wurde leiser. Aldiana ging in eines der Badezimmer, wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser auf die Wangen und die Stirn. Trotz allem, am Verabscheuungswürdigsten war Delias sadistische Ader, ihre Gegnerinnen zu quälen, bis sie beinahe krepierten. Aldiana war überzeugt, dass früher oder später eine ihrer Widersacherinnen sterben würde. Der Kelch, gegen Delia antreten zu müssen, war an ihr bisher stets vorbeigegangen. Dennoch sollte sie zukünftig vielleicht noch eine Spur härter trainieren. Aldiana betrachtete ihr Spiegelbild und ein grimmiger Ausdruck trat in ihr Gesicht.

      Alona saß in seinem Zimmer und kämpfte mit dem schlechten Gewissen. Wie leid es ihm tat, Aldiana dermaßen eine verpasst zu haben. Er mochte Aldiana unendlich gerne. Sie war ausnahmslos ehrlich und ein echter Kumpel. Es gab kein anderes Mädchen, das ihm so vertraut war. Man konnte mit ihr wunderbar reden. Mit den übrigen Mädchen ging das nicht, jedenfalls nicht so gut.

       Alona stand auf und schleuderte die Handschuhe ins Regal. Doch welche Wahl war ihm geblieben? Er war bereit gewesen, ihr den Sieg zu schenken. Aldiana hätte zuschlagen können, als er regungslos auf der Matte verharrte. Aber ihm hätte klar sein müssen, dass sie so ein Geschenk niemals annehmen würde. Aldiana würde nicht im Traum auf die Idee kommen, einem wehrlosen Gegner die Visage zu polieren. Es gab Jungen und Mädchen, die nicht lange gezögert hätten, wenn die Widersacher ohne Deckung unter ihnen lagen. Aber Aldiana war nicht wie die. Sie war erhabener, hatte so etwas nicht nötig.

      Sein Gaumen fühlte sich plötzlich trocken an. Alona griff nach der Plastikflasche. Das Wasser war noch kühl und schmeckte gut. Was für ein Glück, dass


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