AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt
Henry schaute zu, wie das fahrbare Ungetüm die nächste Wand zum Feld transportierte. Als das Geräusch des Motors abebbte, konnte Henry hören, wie sich sein Vater mit einem Mann im blauen Overall stritt.
Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter.
»Hallo Henry. Wie steht's?«
Hartmut, der Bauer vom Nachbarhof lächelte ihn aufmunternd an.
»Was machst du denn hier?«, fragte Henry.
»Dein Papa hat mir erzählt, dass heute die Betonwände kommen. Zusätzlich muss noch ein riesentiefes Loch gegraben werden. Das wollte ich mir unbedingt anschauen.«
»Ein tiefes Loch?«, wiederholte Henry verständnislos.
»Klar. Die Wände werden zu einem rechteckigen Tank verbunden, und dieser Tank kommt unter die Erde des Kartoffelfeldes.«
Henry runzelte die Stirn. Sein Vater war Eigentümer von gut 300 Hektar Land und damit einer der größten Landwirte in der Gegend. Warum ließ er den Tank nicht einfach irgendwo überirdisch stehen?
Henry hatte die Frage eben gerade laut gestellt, als er einen Stoß gegen den Hinterkopf bekam.
»Du bist zu dumm, es zu verstehen«, schnauzte ihn sein Vater an.
Henry schaute unglücklich von seinen Eltern zu Hartmut. Der Nachbarsbauer sah aus, als würde er seinen Vater jetzt liebend gern zurechtweisen wollen, aber allem Anschein nach wusste auch Hartmut, dass mit seinem wütenden Alten nicht gut Kirschenessen war.
»Wieso?«, fragte Henry kleinlaut.
»In den Tank soll Öl rein«, sagte sein Vater mit einer Betonung, als spräche er mit einem Dreijährigen.
»Ja, und?«
Bevor Henry in Deckung gehen konnte, bekam er die nächste Klatsche auf den Hinterkopf.
»Denk nach«, knurrte sein Vater. »Die Ölkrise war erst der Anfang. Alles wird noch viel schlimmer werden. In ein paar Jahren liefern uns die Scheißaraber vielleicht überhaupt kein Öl mehr. Was passiert dann wohl mit einem Tank, der für alle einsehbar auf dem Feld steht?«
Henry zuckte mit den Achseln und wappnete sich für einen weiteren Schlag.
»Geplündert wird er«, sagte sein Vater. »Alle Leute brauchen Öl. Wer's hat, dem wird's weggenommen. Deshalb verstecke ich meine Ölreserven unter der Erde. Da kann niemand ran.«
Nachdem die Sattelschlepper abgefahren waren, machte sich der Bagger an die Arbeit, eine gewaltige Grube auszuheben. Henry schaute bis zum späten Nachmittag zu, unterbrochen nur von einem spärlichen Mittagessen.
Als die Dämmerung einsetzte, war das eckige Loch fertig ausgehoben. Henry fand, dass es wie ein überdimensioniertes Grab aussah. Eine Ruhestätte für einen Giganten. Er dachte an eines seiner Bücher, in welchem ein König und seine treue Gefolgschaft einen gefährlichen Riesen zur Strecke brachten und ein von ihm unterdrücktes Dorf befreiten. Bestimmt hatten die Helden für die sterblichen Überreste des Monsters eine ähnlich große Mulde ausheben müssen. Henry ging an den Rand und kräuselte die Stirn. Besonders tief war die Grube nicht, vier Meter vielleicht.
»Grabt ihr noch weiter nach unten?«, fragte er den Arbeiter, der gerade aus dem Bagger stieg.
»Nein. Genügt doch. Der Tank wird etwas über drei Meter hoch werden, da reicht 'ne Erdschicht von einem knappen Meter drüber.«
»Also bis Morgen.«
»Wir kommen erst nächstes Wochenende wieder. Dein Vater will es möglichst günstig haben.«
Obwohl Henry mit dieser Bemerkung nichts anfangen konnte, lächelte er dem Mann freundlich zu und verschwand dann im Laufschritt im Haus.
Zuerst hatte Henry vorgehabt, ein weiteres Mal die Geschichte vom König und dem Riesen zu lesen, aber als die Lampe sein Zimmer in helles Licht tauchte, überkam ihn der Wunsch, sich lieber um die Hausaufgaben zu kümmern. Einen großen Teil der Aufgaben hatte er schon am Vortag gemacht. Doch seine Lehrerin hatte für die besonders Fleißigen noch Zusatzaufgaben kopiert, an denen man sich versuchen konnte. Henry holte den Ranzen hervor, setzte sich aufs Bett und schlug die Seite des Buches auf.
Plötzlich vibrierten die Schulsachen, als jemand mit energischen Schritten durch den Flur eilte. Sekunden später flog die Zimmertür auf und der mächtige Körper seines Vaters stand an der Schwelle. Sein Vater schaute über die verteilten Utensilien auf der Matratze und Henry spürte förmlich, wie es in seinem Kopf arbeitete.
»Du sitzt schon wieder vor dem Schulzeug«, stellte er mit bedrohlicher Stimme fest.
»Die Lehrerin hat uns eine Extraaufgabe gegeben«, versuchte Henry zu erklären.
»Was soll der Scheiß?«, polterte sein Vater. »Weißt du, was Lernen eigentlich ist?«
»Nein?«
»Faulenzen! Nichts anderes, als dumm rumhängen. Wer lernt, kann nicht auf dem Hof arbeiten. Wer lernt, kommt zu gar nichts.«
»Aber Lernen ist doch wichtig«, erwiderte Henry kleinlaut. Die Silhouette seines Vaters baute sich gefährlich nah vor ihm auf.
»Unsinn! Lernen ist Zeitverschwendung. Auf dem Hof helfen ist wichtig.«
Sein Vater beugte sich vor und wischte mit einer einzigen Bewegung sowohl den Ranzen als auch sämtliche Hefte und Bücher vom Bett.
»Ne ruhige Kugel schieben kannst du, wenn wir tot sind. Bis dahin beteiligst du dich an den wirklich bedeutenden Dingen.«
Er ging zurück zur Tür und richtete den Zeigefinger auf Henry.
»Ich erwarte dich in fünf Minuten vor der Grube. Es gibt viel zu tun. Wir werden einen Weg anlegen. Nächsten Samstag bringen die Sattelschlepper die Deckenelemente. Ich habe keine Lust, dass sie wieder durch die unbefestigte Erde meiner Felder fahren müssen. Wir werden Granitplatten verlegen, auf denen die Lkw hin- und herfahren können. Wir werden hart arbeiten.«
Henry nickte, sprang vom Bett und sammelte die Schulbücher auf.
»Du wirst dich die gesamte nächste Woche sofort nach der Schule bei mir melden. Wir schaffen bis zur Dunkelheit. Und wenn ich dich nur einmal mit deinem Schulheft vor der Nase erwische, schlage ich dich blutig!«
»Und nach der Arbeit?«, fragte Henry zögerlich.
»Anschließend kriegst du Essen und gehst dann schnurstracks in die Falle. Du brauchst deine Kraft für den Wegbau. Lernen lenkt da nur ab.«
Kapitel 6
August 2003
Aldiana blickte hinüber zur Tafel, auf der noch die Rechenaufgaben der letzten Stunde standen. Suez, Alonas Mutter, gab ihnen in unregelmäßigen Abständen Unterricht in Deutsch und Mathe. Oft jedoch verstrichen, zu ihrem Leidwesen, viele Wochen, in denen überhaupt keine Schule stattfand. Und ab und zu, so wie heute, gab sich der König die Ehre und weihte sie in gewisse Themen ein, die Aldiana stets unangenehm waren.
Die Luft war abgestanden und drückte wie ein schwerer Vorhang auf ihre Sinne. Der Schulraum befand sich fast am Ende der unterirdischen Anlage. Bis hierher reichte die Kraft des Ventilators längst nicht mehr und so wunderte es Aldiana jedes Mal aufs Neue, dass man in diesem Zimmer überhaupt atmen konnte.
Sie war mit Alona zusammen durch den ewig langen Gang gegangen. Alona schritt dicht hinter ihr her und hatte die ganze Zeit über ihre Hände gehalten. Als sie den Raum mit der Zelle durchquerten, warf Alona ihr einen vielsagenden Blick zu. Die Zelle war momentan nicht belegt und die Decke lag sorgfältig zusammengelegt auf der verschmutzten, gelblich glänzenden Matratze.
Von dort führte ihr Weg in den sogenannten Schultrakt, der höher lag als die übrige Anlage. Der Gang zwischen den Räumen verlief sanft nach oben und dicke Betonstufen waren in den Boden eingelassen.
Der Schulraum selbst war spärlich eingerichtet. An einer Seite standen alte Holzschränke, die allesamt abgeschlossen waren. Vermutlich hatte nur der König die Schlüssel dazu. Aber wahrscheinlich befand sich in den ollen Schränken sowieso nichts Interessantes. Aldiana hatte bisher jedenfalls noch nie gesehen, wie jemand