AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt
zwischen Eltern und Kindern ebenfalls strikt untersagt. Hoffentlich schaute niemand in ihre Richtung.
»Tatsächlich?«, fragte Christina.
»Ganz bestimmt«, antwortete Aldiana. »Könntest du jetzt bitte deine Hand aus meinem Gesicht nehmen?«
Obwohl Aldiana sich bemühte, sanft zu sprechen, zuckte Christina zusammen, als hätte sie einen Schlag bekommen.
»Natürlich«, murmelte Christina und schlenderte hinüber zur gegenüberliegenden Seite des Tisches, wo die Erwachsenen saßen.
Der Platz von Bela blieb verwaist. Dafür lachte Delia für zwei. Immer wieder hallte ihre schrille Stimme durch den Raum. Die Hexe war bester Laune. Wahrscheinlich war ihr Körper noch voller Adrenalin. Delia erzählte, wie Bela geheult und um Gnade gewinselt hatte, und alle anderen Mädchen und die meisten Jungs hörten fröhlich kichernd zu, mit Ausnahme von Belos.
Dann fiel Aldianas Blick auf Alona.
Alona kicherte ebenfalls nicht, ja er schien Delias Gelabere nicht mal zu hören. Er starrte direkt in ihre Richtung und sein Gesicht wirkte seltsam angespannt. Plötzlich wurde Aldiana klar, dass Alona geradezu ängstlich aussah. Lag es an ihr? Befürchtete Alona etwa, dass sie ihn nun hasste, nur weil seine Faust leider den unmittelbaren Weg an ihre Schläfe gefunden hatte? Eigentlich war sie ihm dankbar, dass er zum entscheidenden Schlag ausgeholt hatte. Sie selbst hatte es ja nicht übers Herz gebracht, seine filigrane Visage zu verletzen.
Aldiana legte ihre ganze Energie in ein Lächeln, das, wie sie hoffte, absolut entwaffnend wirkte, und nickte ihm dabei leicht zu.
Alona reagierte sofort. Seine Körperspannung veränderte sich schlagartig. Er saß nicht mehr so stocksteif vor dem Teller, sondern sackte zufrieden ein wenig zusammen. Als Aldiana ihm ein lautloses »Alles okay« zuhauchte, war das Grinsen, welches in seinem Gesicht erschien, rekordverdächtig breit. Aldiana lächelte ebenfalls. Es war total süß, dass sich Alona derart verunsichert zeigte. Der Arme hatte anscheinend wirklich geglaubt, sein Fausthieb hätte ihre Freundschaft ruiniert. Aldiana beschloss, nach dem Essen auf jeden Fall noch mit ihm zu sprechen.
Der König gab sich zum Nachtisch die Ehre. Aldiana hörte die Schlüssel rasseln, als er die Verschlossene Tür öffnete. Kurz darauf fiel die Eisentür mit einem leichten Schmatzen wieder zu. Aldiana hatte sich schon oft gefragt, was der König nur immer da oben zu schaffen hatte. Die Verschlossene Tür führte direkt in einen abgetrennten Bereich, in dem gewaltige Filter und Strahlenschutzgeräte installiert waren. Dieser Raum war die Schnittstelle zur Außenwelt. Ein Fahrstuhl ging von dort hoch bis zur Erdoberfläche. Der Schacht sollte knapp hundert Meter lang sein und die Fahrt mehrere Minuten dauern.
Gern wäre Aldiana mal mit diesem Fahrstuhl gefahren, aber natürlich hatte niemand außer dem König Zugang zur Verschlossenen Tür. Und soweit sie wusste, hatte der König bisher auch noch keiner anderen Person erlaubt, ihn zu begleiten. Nach seiner Aussage gab es da oben sowieso nichts Spannendes zu sehen. Die Erde war ein schneebedecktes, eisiges Feld, der Himmel ewig grau. Außerdem gab es nur eine einzige Strahlenschutzausrüstung im Fahrstuhl. Man musste sie unbedingt anlegen, wenn man nicht sofort kontaminiert werden wollte.
Dennoch hielt sich der König ziemlich oft im endlosen Schnee auf. Es gab wichtige Wartungsarbeiten, die auf der Erde durchzuführen waren. Nach Berichten des Königs führte der Fahrstuhl in eine alte, riesengroße Halle, in der früher Strom produziert wurde. Die Atmosphäre war zwar verseucht, aber es war dem König gelungen, einige der Maschinen wieder zum Laufen zu bringen. Nur deswegen hatten sie hier unten überhaupt Elektrizität, Heizung und frische Luft, und lebten wahrscheinlich so komfortabel und sicher, wie kaum einer der übrig gebliebenen Menschen auf diesem sterbenden Planeten.
Diese Leistung konnte man dem König gar nicht groß genug vergelten!
Etwa zwei Minuten, nachdem Aldiana die geheime Tür gehört hatte, trat der König in das Speisezimmer. Er schaute skeptisch auf die Hähnchensuppe, die es zum Hauptgericht gab, und nahm sich einen der Yoghurtbecher.
Der König begrüßte sie alle freundlich und entschuldigte sich sogar, dass er bei den heutigen Kämpfen nicht anwesend gewesen war.
»Es gab eine ausgefallene Maschine, um die ich mich dringend kümmern musste«, sagte der König mit seiner ein wenig zu hohen, aber dennoch würdevollen Stimme.
Kurz danach erklärte er das Abendessen für beendet. Aldiana sah, wie er Delia herbeiwinkte, ihr ein paar Worte ins Ohr flüsterte und über ihre muskulösen Arme streichelte. Delia lachte ausgelassen und sagte etwas von einer Scheißhure, der sie am liebsten sämtliche Zähne ausgeschlagen hätte. Der König grinste und beide verschwanden in der langen Röhre, die durch den Raum mit der Zelle führte, und durch noch einen weiteren, ehe sie schließlich vor dem Gemach des Königs endete.
Alona war schon aufgestanden und dabei, den Wohntrakt zu verlassen. Aldiana schubste zwei Jungen zur Seite und rannte hinter ihm her. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, strich über seine Wange, und blickte zu ihm hinauf, tief in seine Augen.
Alona lächelte scheu.
»Hallo Aldiana.«
»Hi Alona.«
»Wie geht es dir? Was macht dein Kopf?«
»Keine Sorge. Alles bestens.«
Alona schnaufte laut aus und legte seine Hände auf ihre Unterarme. Ihr gefiel das, sie mochte es, von ihm berührt zu werden.
»Hör mal, ich hatte so ein schlechtes Gewissen, aber ich musste es tun …«
»Ich weiß«, erwiderte Aldiana.
»Man hätte dich sonst womöglich in die Zelle gesteckt.«
»Du hast richtig gehandelt«, versicherte Aldiana erneut. »Ich bin froh, dass du so reagiert hast.«
»Du bist mir nicht ein klitzekleines bisschen böse?«
»Überhaupt nicht.«
Aldiana spürte seine Umarmung und sog den herben Duft seiner Haut ein. Wie gerne wäre sie ewig so stehen geblieben. Doch bereits nach wenigen Augenblicken humpelte Klaus auf Alona zu und bat ihn um ein kurzes Gespräch.
Alona ließ sie frei und lächelte gelöst von beinahe einem Ohr bis zum anderen. Aldiana schaute ihm noch eine Weile hinterher, ehe sie sich zufrieden auf einen der Sessel setzte und in einer alten Illustrierten blätterte.
Kapitel 5
Februar 1981
Geweckt wurde Henry vom lauten Krach verschiedener Motoren. Eine Weile lag er still in seinem Bett und versuchte die Uhrzeit zu erraten. Obwohl es im Zimmer mittags so finster wie mitten in der Nacht war, spürte Henry instinktiv, ob draußen die Sonne bereits aufgegangen war oder nicht. Die Luft im Raum fühlte sich schwerer an, wenn der Tag angefangen hatte.
In diesem Augenblick jedoch war sich Henry nicht sicher, ob die Finsternis den Kampf gegen den Morgen schon verloren hatte. Schließlich drehte er den Kopf und schaute auf den Wecker. Es war kurz vor sieben. An Wochentagen war sein Vater um diese Uhrzeit längst mächtig am Schaffen, aber am Sonntag ließen es seine Eltern für gewöhnlich ruhiger angehen.
Ein tiefes Brummen erschütterte die Grundmauern des Hauses. So einen Lärm verursachte keine Maschine, die ihm bekannt war. Vielleicht hatte sich Vater einen neuen Mähdrescher zugelegt und fuhr ihn nun Probe?
Geschwind kam Henry auf die Beine und stieg in die Kleidung.
Seine Mutter arbeitete nicht in der Küche. Dafür stand die Haustür offen. Henry rannte über die Wiese um das Haus herum zum hinteren Teil des Grundstückes, wo sich sämtliche Ställe und Gerätschaften befanden. Schon von Weitem sah er seine Eltern dicht beieinanderstehen. Unmittelbar daneben parkten zwei schwere Lkw-Sattelzüge. Ein gelber Kranwagen war gerade dabei, von einem der Sattelzüge eine riesige, längliche Betonwand abzuladen.
»Was geht denn hier ab?«, fragte Henry verwundert, wobei er schreien musste, um überhaupt gehört zu werden.
»Das wird ein Öltank«, erwiderte seine Mutter und zeigte in Richtung der Betonteile.
Der Kran hatte bereits fünf