AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


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Während er die Flasche zum zweiten Mal ansetzte, spielten seine Gedanken erneut die Szene ab, die schon seit einer Dreiviertelstunde in seinem Kopf umherschwirrte. Wieder und wieder sah er den Moment, in dem seine Faust Aldianas Schläfe traf. Und stets aufs Neue ermahnte Alona sich, dass ihm keine andere Wahl geblieben war. Im Gegenteil. Hätte er nicht so besonnen gehandelt, hätten sie sich vielleicht beide in der Zelle wiedergefunden.

       Auf alle Fälle wäre Aldiana in die Zelle gewandert.

       Es gab festgelegte Strafen, die der König höchstpersönlich verkündet hatte. Eine besonders hohe Sanktion drohte demjenigen, der seinen Gegner absichtlich verschonte.

       Alona dachte an Marjan, der zuletzt in der Zelle gesessen hatte. Wie lange war das jetzt her? Ihm war es entfallen, aber mehr als zwölf Monate waren noch nicht vergangen. Wer in die Zelle gesperrt wurde, war in dem Moment gewissermaßen vogelfrei, sämtlicher Rechte beraubt. Marjan war fast vier Wochen eingesperrt gewesen und hatte die Zeit nur knapp überlebt. Von einigen der Blessuren, die ihm dort zugefügt wurden, würde sich der Gute jedoch nie mehr erholen.

       Die Zelle lag in einem der drei Außensektoren. Ganz am Ende des Wohntraktes. Hinter dem gewaltigen Tisch, an dem gemeinsam gegessen wurde, zweigte ein schmaler Gang ab. Der Gang war so eng, dass ein ausgewachsener Mann gerade so hindurchkam, ohne stecken zu bleiben. Nach endlos wirkenden siebzehn Metern mündete die Röhre in einem Raum, der etwa die Größe des Trainingsbereiches hatte. Dort befand sich unter anderem die Zelle. Die Erwachsenen erzählten, dass es früher für Verbrecher Einrichtungen gab, in die sie gesperrt wurden, und dass diese Zelle so einem Aufenthaltsort nachempfunden war. Außer einer dünnen, schmutzigen Matratze und einer stinkenden Wolldecke gab es dort nur noch einen Eimer, in dem der Insasse sein kleines und großes Geschäft zu verrichten hatte. Aber das war alles längst nicht das Schrecklichste. Man konnte eine Weile ohne die allerbeste Hygiene leben, wenn man wusste, dass auch wieder andere Tage kamen. Schlimm war, dass den Insassen Bein- und Handfesseln angelegt und ihre Gesichter verschleiert wurden. Schlimm war außerdem, dass die Zellen zwar von innen nicht zu öffnen waren, von außen allerdings jederzeit Einlass gewahrten. Und ganz besonders schlimm war, dass jeder Bewohner, der es wollte, in die Zelle marschieren und auf den Insassen einprügeln durfte, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit.

       Durch die vielen Kämpfe, die sie alle zu bestreiten hatten, gab es kaum einen Bewohner, der nicht noch eine offene Rechnung mit einem anderen zu begleichen hatte. Sei es, wegen eines verlorenen Gefechtes, oder aus wesentlich banaleren Gründen. Marjan war ein guter Kartenspieler und hatte beim Pokern oft die Fleischrationen der Mitspieler eingeheimst. Bei einem seiner Spielpartner musste sich eine ungeheure Wut angestaut haben. Jedenfalls schlich eines Nachts, als Marjan längst schlief, ein Schatten in seine Zelle und sprang mit voller Wucht auf seinen Kopf. Immer und immer wieder. Der König meinte später, es war ein reines Wunder, dass Marjan diesen Angriff überlebt hatte.

       Alona schüttelte sich, als er daran dachte. Marjans Schädel war seinerzeit zwar nicht kaputtgegangen, aber seit diesem Vorfall hatte der Mann Schwierigkeiten mit der Sprachfindung und vergaß Dinge, die er sich nicht sofort aufschrieb.

       Man durfte in der Zelle nicht schlafen. Das konnte lebensgefährlich sein.

      Alona rieb sich mit den Händen über das Gesicht, um diese schrecklichen Bilder loszuwerden. Es klappte. Stattdessen erschien erneut Aldianas ohnmächtiger Körper vor seinem geistigen Auge. Aber diesmal fühlte Alona kein schlechtes Gewissen mehr aufsteigen. Aldiana war ein starkes Mädchen und hatte schon unzählige Kämpfe gewonnen. Außerdem war sie nicht dumm und vertrat stets überzeugend ihre Meinung. Es gab eine ganze Menge Leute, denen das nicht passte. Nicht auszudenken, wenn Aldiana zur Strafe in die Zelle gemusst hätte. Delia würde sich so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen und geduldig darauf warten, bis Aldiana irgendwann vor Müdigkeit eingeschlafen wäre. Was sie dann mit ihr anstellen könnte, wollte sich Alona lieber nicht vorstellen. Und Delia war bei Weitem nicht die Einzige, die noch ein Hühnchen mit Aldiana zu rupfen hatte.

       Nein, er brauchte absolut kein schlechtes Gewissen zu haben. Aldiana war schlau und wusste ebenfalls, was für eine Strafe ihr drohte. Bestimmt war sie ihm nicht allzu böse. Jedenfalls hoffte er das innbrünstig.

       Eine schrille Klingel holte ihn aus den Gedanken. Es war schon wieder Zeit für das Abendessen. Alona schlürfte zur Tür und trat auf den Gang hinaus. In Kürze würde er ihre Reaktion zu spüren bekommen.

      Aldiana war geradewegs in ihr Zimmer gegangen, hatte die Tür verschlossen und sich auf die Matratze fallen lassen. Als sie nun von der Klingel geweckt wurde, ging es ihr viel besser. Die Kopfschmerzen waren so gut wie verschwunden und das Schwindelgefühl hatte sich auch gelegt. Nur hungrig war sie kein bisschen. Doch das war beim Abendessen egal. Am Abend herrschte Anwesenheitspflicht. Selbst wenn man nichts essen wollte, musste man am Tisch Platz nehmen und freundlich lächeln, sollte der König einen anschauen.

       Trotzdem nahm sich Aldiana Zeit, frische Klamotten anzuziehen. Sie griff nach einem Trikot und nach einer kurzen Hose, die genauso aussahen, wie die Kleidungsstücke an ihrem Körper. Jeder von ihnen besaß vier identische Ausrüstungen, bestehend aus einem ärmellosen Trikot, kurzer Hose, Socken und Schuhe. Nur die Unterwäsche war individuell.

      Auf dem Flur wäre Aldiana beinahe mit Elina zusammengestoßen, die wie ein Wirbelwind aus ihrem Zimmer geschossen kam.

       »Mensch, bin ich hungrig«, sagte Elina und rieb die Hände aneinander. Auf ihrer Stirn hatte sich ein hässlicher, blauvioletter Fleck ausgebreitet.

       »Ein Andenken vom Kampf?«, fragte Aldiana und nickte ihr zu.

       »Ja. Aber Finn sieht viel schlimmer aus«, erwiderte Elina lachend.

       »Du musstest auch gegen einen Jungen antreten?«

       »Sämtliche Mädels hatten gegen die Jungs anzutreten, mit Ausnahme von Delia und Bela«, sagte Elina. »Du solltest öfter bei den Kämpfen zuschauen.«

       Aldiana winkte ab. »Muss nicht sein. Außerdem wurde ich ohnmächtig gehauen.«

       »Ich weiß. Ich war die Einzige, die einen Jungen fertiggemacht hat. Die anderen Mädels haben alle verloren.«

       Aldiana verzog kurz den Mund. Gegen Finn zu gewinnen, war keine besondere Kunst. Finn war mit seinen sieben Jahren der jüngste Bewohner hier unten.

       »Delia hat auch gewonnen«, stellte Aldiana fest, als sie in den Vorraum traten. Ihr Blick fiel auf den Ventilator, der, wie immer um diese Uhrzeit, ausgeschaltet war.

       »Richtig«, sagte Elina. »Aber das zählt nicht. Sie hat gegen ein Mädchen gewonnen.«

       »Wie geht es Bela?«

       Elina zuckte mit den Schultern. »Mir doch egal. Als sie Delia schließlich von ihr heruntergezerrt haben, hat Bela sich jedenfalls nicht mehr bewegt.« Sie lachte leise vor sich hin. »Schwere Schäden nehme ich mal an. Geschieht ihr recht.«

      Sie erschienen spät. Die meisten Jugendlichen und sämtliche Erwachsenen waren bereits anwesend. Aldiana schaute an die Spitze der Tafel, aber der Platz des Königs schien glücklicherweise noch verwaist zu sein. Auch im Wohnbereich hatte Aldiana ihn nirgendwo entdeckt. Christina tauchte plötzlich neben ihr auf und strich ihr sanft über die Wange.

       »Wie geht es dir, mein Schatz?«, flüsterte sie leise.

       Eigentlich durften die Mütter ihren Kindern keine Kosenamen geben. Das hatte der König schon vor langer Zeit angeordnet, und das war eines der Dinge, bei denen er überhaupt keinen Spaß verstand. Soweit Aldiana wusste, hielten sich alle Frauen daran. Nur ihre Mutter verwendete in Momenten, in denen niemand in der Nähe war, ein paar Liebkosungen für sie. Meistens waren es Wörter wie Schatz, Engel oder Wildblume. Aldiana fand das immer ein wenig befremdlich, schämte sich manchmal sogar dafür. Sie selbst wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Mutter mit etwas anderem als dem Vornamen anzureden. Mutter war als Begriff ebenso unerwünscht wie Vater. Das hatte der König ihnen schon von klein auf eingebläut. Alle Eltern waren mit Vornamen anzusprechen und ihnen sollte kein besonderer Respekt entgegengebracht werden, nur weil sie an der Erzeugung der Kinder beteiligt waren. So oder so ähnlich hatte es Aldiana mindestens ein dutzendmal vom Herrscher gehört.

       »Mir geht es gut«, sagte sie förmlich und versuchte sich an einem


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