AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


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aber die Jungen saßen auf den beiden hinteren Bänken, während die Mädchen die vorderen Bänke in Beschlag genommen hatten. Das war schon immer so gewesen. Aldiana hatte mittlerweile vergessen, ob einer der Erwachsenen ursprünglich diese Anordnung vorgegeben hatte, oder ob das von ganz alleine geschehen war.

       Eine Tür wurde geöffnet. Aldiana schaute auf den Gang neben der Tafel. Von dort ging es in die Gemächer des Königs. Das Heiligtum des Herrschers lag noch weiter oberhalb und der Verbindungsgang zwischen den beiden Räumen war mit den gleichen Stufen ausgerüstet, wie der Weg, den sie hierher gegangen waren. Celia hatte erzählt, dass der Korridor über fünfzehn Schritte lang war. Aldiana konnte das nicht beurteilen. Niemand durfte den Durchgang betreten, der nicht ausdrücklich vom König dazu eingeladen wurde. Und Aldiana war eines der wenigen Mädchen, die bisher keine Einladung in die königliche Kammer bekommen hatten. Sie war nicht besonders böse darüber, obwohl es sie schon brennend interessierte, wie der König wohnte. Delia hatte in höchsten Tönen von seinem Gemach geschwärmt und es als einen gewaltigen und beeindruckenden Raum beschrieben. Aber Delia redete über den Tag verteilt eine ganze Menge dummes Zeug. Da konnte man Celias Beschreibung mehr Glauben schenken.

       Celia sagte, des Königs Stube das Königsgemach wäre in etwa so groß wie der gemeinsame Wohnbereich. Doch statt Sesseln und Tischen gab es dort nur kleine Regale, auf denen allerlei Krimskrams stand. Ein riesiges Bett beherrschte die hintere Hälfte des Zimmers. Und es gab einen Schreibtisch, an dem der König die Gesetze und Regeln ausarbeitete.

       So ein wichtiges Möbelstück musste ein beeindruckender Anblick sein. Aldiana erinnerte sich an Bilder in einer der Zeitschriften im Wohnzimmer. Darin gab es einen Bericht über einen einflussreichen Mann, der in einem schick eingerichteten Büro hinter einem imposanten Schreibtisch saß. Christina hatte ihr vorgelesen, dass dieser Raum Oval Office hieß und sich in einem weit entfernten Land befand, welches mittlerweile sicherlich auch nicht mehr bevölkert war. Aber der Mann, der an diesem Präsentiertisch saß, war damals ungemein mächtig gewesen, noch mächtiger als der König. Das sagte zumindest Christina. Trotzdem glaubte Aldiana, dass der Schreibtisch des Königs mindestens genauso stattlich aussah, wie der in der Illustrierten. Allein deswegen hätte sie sich gerne einmal in den Gemächern des Herrschers umgesehen. Nun, irgendwann würde ihre Chance bestimmt kommen.

      Jetzt hallten Schritte durch den Gang, der zum königlichen Zimmer führte. Kurz darauf erschien ihr König in dem Durchgang. Aldiana erhob sich zusammen mit den anderen Jugendlichen. Beim Abendessen mit den Erwachsenen brauchten sie nicht aufzustehen, wenn der König sich die Ehre gab. Doch hier im Unterrichtszimmer war es selbstverständlich, dass sie von ihren Plätzen aufsprangen, sobald der Herrscher den Raum betrat.

       Der König schaute die Gruppe einen Moment lang zufrieden an. Aldiana fiel auf, dass er die Mädchen ungleich aufmerksamer betrachtete, als die Jungen. Aber das war schon immer so gewesen. Gemächlich schritt der König neben die Tafel und nickte ihnen zu. Das war das Zeichen. Sie durften sich wieder setzen.

       »Ich grüße euch«, sagte der König und strich sich einmal durch die schwarzen Haare, die heute eine Spur struppiger aussahen als sonst. Das Ende des dunkelroten Umhanges streifte über die Fliesen, als er sich umdrehte und flüchtig zur Tafel schaute sah.

       »Ah, Mathe«, stellte der König fest. »Das war früher ein wichtiges Fach. Damals gab es Geld. Man musste ständig rechnen. Aber diese Zeiten werden nie zurückkommen. Hier unten braucht ihr kein Geld, hier sorge ich für euch.«

       Delia begann zu klatschen und ihr Blick hing an dem König, als wäre er eine leckere Zuckerstange. Auch andere Mädchen und Jungen stimmten Beifall an. Aldiana drehte sich um und sah Alona in die Augen, der ihr zugrinste und die Hände in seinem Schoß beließ. Aldiana grinste ebenfalls und schaute wieder nach vorne. Delia und ein paar Mädels übertrieben es gerne und spendeten Applaus, sobald der König etwas halbwegs Interessantes gesagt hatte. Manchmal kam es Aldiana so vor, als würden sie ihn damit ein klein wenig verhöhnen. Aber der Herrscher nahm es ihnen nicht übel. Natürlich stand er über solchen kindlichen Dingen.

       Auch jetzt wartete der König einfach ab, bis der Lärm allmählich verebbte. Mit dem linken Zeigefinger schob er die rechteckige Brille zurück auf die Nase. Eine Geste, die Aldiana schon hunderttausendmal gesehen hatte. Die Bügel der Sehhilfe waren stark ausgeleiert und hielten sich kaum mehr hinter seinen Ohren.

       »Wir wollen heute einige neue Regeln ansprechen«, begann ihr Herrscher zu erklären. »Diese Regeln betreffen eure Körper. Vornehmlich die Körper der Mädchen.«

       Aldiana stöhnte innerlich auf. Als ob das etwas Neues wäre. Meistens ging es ums Körperliche, wenn der König vor ihnen unterrichtete. Das letzte Mal hatte er alle Mädchen eindringlich daran erinnert, dass sie keine falsche Scheu zeigen sollten, wenn sie in sein Gemach eingeladen wurden. Es war vollkommen natürlich für einen König, seine Untertanen von Zeit zu Zeit nackt zu sehen und sie zu berühren. Das musste sogar sein, denn solche Dinge stärkten das Gruppengefühl, die Gemeinschaft an sich.

       Aldiana wusste noch, dass ihr diese Erklärung sehr fadenscheinig vorkam. Wieso war es wichtig für die Gemeinschaft, wenn sie entblößt vor ihrem König stand und seine Finger auf ihrer Haut spürte? Aber vielleicht war ihr die ganze Sache einfach noch nicht völlig klar geworden. Womöglich verstand man es erst, wenn man tatsächlich in sein Gemach gerufen wurde.

       »Ihr entwickelt euch allmählich zu echten Frauen«, stellte der König unterdessen mit seiner hohen Stimme fest. »Einige schneller, andere langsamer. Ich habe festgestellt, dass bei der Einen oder Anderen sogar schon Haare sprießen.« Der König runzelte die Stirn, als müsste er einen schlimmen Gedanken vertreiben. »Ich mag das nicht. Ein weiblicher Körper sollte vollkommen haarlos sein. Ich habe deshalb beschlossen, ein neues Gesetz zu verkünden.«

       Mit einer erhabenen Bewegung warf er den Umhang zurück und förderte ein eingerolltes Dokument zutage, das irgendwo in seinem Hosenbund gesteckt haben musste. Aldiana kannte das dicke, gelbliche Papier. Der König benutzte es ausschließlich, um darauf Gesetzestexte zu verfassen. Er schrieb alle Gesetze per Hand auf solche edlen Papiere. Manchmal fragte sich Aldiana, was passieren würde, wenn sein Vorrat davon aufgebraucht war. Würde es dann auch keine neuen Gesetze mehr geben? Schwer vorstellbar, dass der Herrscher einfach die Ränder einer alten Zeitung oder Zeitschrift beschrieb. Und unbedrucktes Papier gab es hier unten nicht. Aber wahrscheinlich war es absolut müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Der König war ein vorausschauender Mann. Mit Sicherheit hatte er in seinem Gemach einen schier unermesslichen Stapel von den gelben Dokumenten.

      Unendlich langsam rollte der König das Schriftstück auf und betrachtete es eine Weile, als würde er es in diesem Augenblick zum ersten Mal sehen. Dann räusperte er sich und begann zu lesen.

       »Bei den Jugendlichen setzt der Haarwuchs ein. Deshalb müssen sich ab sofort alle Mädchen komplett rasieren. Das gilt insbesondere für den Intimbereich und die Achseln, aber auch für Beine, Po, Brust und sonstige Stellen. Der König behält sich das Recht vor, unangemeldete Kontrollen vorzunehmen. Der König wird mit seiner Zunge über die zu rasierenden Bereiche fahren und anhand des Gefühls entscheiden, ob die Rasur in Ordnung war oder nicht. Falls der König nicht zufrieden ist, droht dem Mädchen ein längerer Aufenthalt in der Zelle.«

       Einen Moment herrschte verwundertes Schweigen im Raum. Aldiana hatte erst vor Kurzem festgestellt, dass zwischen ihren Beinen etwas geschah, sich dort ein paar feine Härchen auszubreiten begannen. Sie nahm sich vor, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit mit Christina darüber zu reden. Als hätte der König ihren Gedanken aufgefangen, räusperte er sich unbehaglich.

       »Ich hatte eigentlich angenommen, dass die Mütter euch über die Veränderungen aufklären, die mit dem Eintritt in das Erwachsenenleben einhergehen …«

       »Haben sie«, sagte Delia. »Wir sind alle aufgeklärt.«

       »Wenigstens«, antwortete der König. »Dann ist es mir allerdings umso schleierhafter, warum die Mütter nicht auch gleich die Hygiene eines reinen, haarfreien Körper angesprochen haben.«

       Kurz schien es so, als ob er noch etwas sagen wollte, aber dann versank der König in Gedanken, während er das Gesetz wieder in den Hosenbund steckte. Später würde das Dokument offiziell in den großen Ordner im Wohnzimmer abgeheftet


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