AUF LEBEN UND TOD. Martin S. Burkhardt

AUF LEBEN UND TOD - Martin S. Burkhardt


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ihn mit zusammengekniffenen Augen.

       »Ich bin fertig geworden«, verkündete Henry stolz und machte eine ausholende Handbewegung.

       »Wäre das erste Mal, dass du was hinkriegst«, antwortete der Alte gereizt und zeigte hinüber zu dem Weg. »Was soll der Unkrauthaufen da? Es gibt Gewächse, die treiben sofort wieder aus, selbst wenn man sie aus der Erde gezogen hat.«

       »Ich hatte keine Behälter mehr.«

       »Im Kuhstall stehen noch jede Menge.«

       Henry brummte. Der Kuhstall befand sich am anderen Ende des Hofes. Sogar wenn er gerannt wäre, hätte es ihn zehn Minuten gekostet, mit den Eimern zurückzukommen. So viel Zeit hatte ihm sein Vater nicht zur Verfügung gestellt. Natürlich fiel ihm nicht in Traum ein, seinen Alten darauf hinzuweisen. So etwas konnte ungeahnte Folgen haben, und meistens waren sie schmerzhaft.

       »Stimmt«, sagte Henry stattdessen kleinlaut und nickte zweimal.

       »Du bist einfach zu blöd für 'n Bauern«, bemerkte sein Vater und setzte seine Schritte in das Kräuterfeld. »Wollen mal sehen, ob du wenigstens anständig arbeiten kannst.«

       Henry beobachtete, wie er mit angespanntem Gesicht durch die Erde stakste, sich alle Augenblicke bückte und den Boden um die Kräuterpflanzen kontrollierte. Früher hatte Henry stets vergessen, in unmittelbarer Nähe der Kräuter zu jäten, doch mittlerweile war ihm klar, wie und wo der Alte prüfte.

      Die Laune seines Vaters wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer. Wahrscheinlich war der Alte fest davon ausgegangen, ihm irgendein Unkraut vor die Nase halten zu können, welches er übersehen hatte. Doch Henry hatte anständig gearbeitet. Der Kräutergarten war sauber.

       Dann sah Henry, wie sein Vater auf eines der angrenzenden, großen Felder sprang, auf denen Getreide angepflanzt war. In einer Böschung fand er eine gelb blühende Stängelpflanze und riss sie heraus. Der Alte begutachtete die Pflanze wie ein seltenes Insekt und kam geradewegs auf Henry zu.

       »Was glaubst du wohl, was das für 'n Gewächs ist?«

       Henry schüttelte den Kopf. »Irgendein Unkraut wahrscheinlich. Warum?«

       »Ganz recht. Und weshalb steht das Zeug hier noch rum? Solltest du nicht alles rausreißen?«

       Henry schluckte und schaute sich Hilfe suchend nach seiner Mutter um. Aber es war niemand in der Nähe. Auch seinem Vater musste klar sein, dass er gesehen hatte, wo das Unkraut herkam. Was erwartete der Alte jetzt von ihm? Dass er kleinlaut hinnahm, übertölpelt zu werden? Oder sollte er sich wehren, deutlich machen, dass sein Vater ihn reinzulegen versuchte?

       »Ähm«, sagte Henry, während er die beiden Möglichkeiten gegeneinander abwog.

       »Du bist ein unordentlicher und schlampiger Junge«, schimpfte der Alte. »Man kann dir nicht die kleinste Verantwortung übertragen. Da kommt nur Mist raus.«

       Gerade als Henry darauf hinweisen wollte, dass die Pflanze überhaupt nicht aus dem Kräuterfeld kam, gab es einen Knall und seine Wange begann zu schmerzen. Ein rostiger Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Seine Lippe wurde dick. Geschwind drehte Henry sich um und lief Richtung Haus.

       »Bleib stehen, du dreckiger Scheißer«, brüllte sein Vater hinter ihm her. »Ich geb dir auch noch die andere Seite!«

       Henry dachte nicht daran, anzuhalten. Er war gut in Form. Der Alte konnte mit seinem fetten Bierbauch kaum schneller gehen als eine müde Kuh, geschweige denn rennen. Im Dauerlauf umrundete Henry die Ställe und den Geräteschuppen. Die Tür des Hauses war nur angelehnt und Henry stieß sie auf. Erst jetzt gestattete er sich, einen Blick zurückzuwerfen. Natürlich war von dem Alten nichts zu sehen. Sein Vater hatte nicht mal Anstalten gemacht, ihn zu verfolgen.

       Aus der Küche drangen klappernde Geräusche herüber. Henry ging den Flur entlang und fuhr sich mit der Zunge über die Lippe. Er spürte den Riss, die brennende Wunde. Und erneut lief ihm Blut in den Mund.

       An der Küchentür kullerten ihm plötzlich Tränen aus den Augen, schossen von ganz alleine hervor, obwohl Henry sie zu unterdrücken versuchte. Es waren nicht nur die Schmerzen in seinem Gesicht, die ihn plagten. Fast noch schlimmer war die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Warum machte sein Vater so etwas? Wieso konnte sein Vater nicht einfach mal zufrieden mit ihm und seiner Arbeit sein? Dabei hatte er sich solche Mühe gegeben.

       »Meine Güte, was ist denn passiert?« Seine Mutter legte den Kochlöffel beiseite und kam auf ihn zu. Ihre großen Hände fuhren ganz sanft über seine Wangen. Henry begann, noch ausgelassener zu schluchzen.

       »Papi«, fing er an zu erklären, wurde jedoch von ihrem Zischeln unterbrochen.

       »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte sie und nahm ihn fest in die Arme.

       Henry spürte ihre Haut, roch die Feuchtigkeitscreme, die seine Mutter schon immer verwendete. Einen Moment lang war er enttäuscht, weil sie sich - wie meistens - nicht dafür interessierte, was ihm widerfahren war. Dennoch tat ihre Wärme gut. Als seine Tränen getrocknet waren, wollte Henry sich sanft aus der Umarmung befreien, doch seine Mutter ließ ihn nicht los.

       »Gefällt es dir bei mir nicht?«

       »Es war schön, mir geht es besser. Darf ich in mein Zimmer?«

       Seine Mutter drückte ihm die Arme noch eine Spur fester ins Gesicht.

       »Ich habe etwas geschwitzt, meine Haut ist feucht. Spürst du das?«, flüsterte sie verschwörerisch.

       Henry nickte, so gut es ging. Tatsächlich spürte er nur seine pochende Lippe und die getrockneten Tränen an seiner Wange.

       »Die Männer waren früher immer ganz verrückt, mir den Schweiß abzuschlecken. Hast du auch Lust dazu? Magst du meine Tattoos ablecken?«

       Henry wusste nicht, was seine Mutter von ihm wollte. Machte sie einen Scherz? Allein der Gedanke, die cremebeschmierten Arme küssen zu müssen, verursachte ihm Magenkrämpfe.

       »Ich möchte gern in mein Zimmer gehen«, brachte er heiser hervor, da der Schraubstock ihrer Umarmung eher noch an Kraft zugenommen hatte.

       Unvermittelt wurde er losgelassen.

       »Ist sich der Herr Sohn zu fein dafür?«, fragte seine Mutter gekränkt. Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck hart. »Glaubst du, ich bin schon zu alt, oder was?«

       Ohne Warnung schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, beinahe an genau dieselbe Stelle, wie sein Vater kurz zuvor. Der Riss an der Lippe platzte stärker auf, zumindest kam es Henry so vor. Sein ganzer Mund schmeckte nach Blut. Erschrocken und verängstigt zugleich schrie er laut auf.

       »Willst du wohl ruhig sein?«, knurrte seine Mutter und kurz darauf hagelte es weitere Treffer. Wie eine Besessene fuhren ihre Hände auf ihn nieder, trafen ihn an den Wangen, an der Stirn und in den Haaren. Glücklicherweise waren die Schläge nicht sehr platziert. Vielleicht lag es auch daran, dass Henry sofort die Arme um den Kopf schlängelte und daher kaum Angriffsfläche bot.

       Eine Weile stand Henry einfach nur still da, während seine Mutter vor Anstrengung zu keuchen begann und weiter auf ihn eindrosch. Ihm war diese Art von Prügel wohl bekannt. In letzter Zeit drosch sie ziemlich oft auf diese Weise auf ihn ein. Es waren harte, aber ungenaue Hiebe, die meistens nicht allzu viel anrichteten, wenn man sich geduckt hielt und nicht bewegte. Oft hörten diese Wutattacken nach ein paar Sekunden auf.

       Heute war es jedoch anders. Seine Mutter schien überhaupt nicht müde zu werden und schlug mit unverminderter Vehemenz auf ihn ein, während sie laut fluchend immer wieder die Frage wiederholte, ob der Herr Sohn zu fein für ihre Umarmung sei.

       Als die Wucht der Treffer sogar noch zunahm und Henry das Gefühl hatte, die Welt um ihn herum würde sich zu drehen beginnen, wirbelte er zurück und rannte in den Flur.

       Seine Mutter war zwar ebenso kräftig wie sein Vater, aber wesentlich besser in Form. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihm ohne besondere Mühe folgen und ihn einholen können. Glücklicherweise tat sie das nicht und blieb in der Küche. Henry hörte ihre Verwünschungen, als er weinend die Treppe hinauflief.

      In seinem Zimmer empfing ihn die vertraute Dunkelheit. Mittlerweile


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