Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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ich auch geboren.«

      »Im Ausland? Wo denn?«

      »In der Schweiz. Ich bin überall gewesen, auch in Italien und in Paris.«

      Ich war erstaunt.

      »Und du hast das in der Erinnerung, Nelly?«

      »Ja, vieles habe ich in der Erinnerung.«

      »Wie kommt es denn, daß du so gut Russisch kannst, Nelly?«

      »Mama hatte mich schon dort im Ausland Russisch gelehrt. Sie war Russin, weil ihre Mutter eine Russin war; der Großvater war Engländer; aber auch er war so gut wie ein Russe. Und als Mama und ich vor anderthalb Jahren hierher zurückgekehrt waren, da habe ich vollständig Russisch gelernt. Mama war schon damals krank. Da wurden wir ärmer und ärmer. Mama weinte immer. In der ersten Zeit suchte sie hier in Petersburg lange nach dem Großvater und sagte ständig, sie habe sich gegen ihn vergangen, und weinte immer … Sie weinte so viel, so viel! Als sie aber erfuhr, daß Großvater arm sei, da weinte sie noch mehr. Sie schrieb auch oft Briefe an ihn; aber er antwortete nie.«

      »Warum ist denn deine Mama hierher zurückgekehrt? Wollte sie nur wieder zu ihrem Vater?«

      »Das weiß ich nicht. Aber dort hatten wir ein so gutes Leben!« Nellys Augen leuchteten auf. »Mama wohnte allein, nur mit mir zusammen. Sie hatte einen Freund; das war ein so guter Mensch wie Sie … Er hatte sie schon gekannt, als sie noch hier war. Aber er starb dort, und da kehrte Mama zurück …« »Also mit dem ist deine Mama auch vom Großvater weggegangen?«

      »Nein, mit dem nicht. Mama ging mit einem andern vom Großvater weg, und der verließ sie dann…«

      »Wer war denn das, Nelly?«

      Nelly sah mich an und gab keine Antwort. Sie wußte offenbar, mit wem ihre Mama weggegangen und wer aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihr Vater war. Aber es war ihr peinlich, selbst mir seinen Namen zu nennen. Ich wollte sie nicht mit Fragen quälen. Sie hatte einen seltsamen, nervösen, heftigen Charakter, war aber dabei bemüht, ihre starken Affekte zu unterdrücken; sie hatte viel Sympathisches, verschanzte sich aber mit stolzer Unnahbarkeit. Obwohl sie mich von ganzem Herzen mit der reinsten, wärmsten Liebe liebte, fast ebenso innig, wie sie ihre verstorbene Mutter geliebt hatte, an die sie nicht ohne tiefen Schmerz zurückdenken konnte, war sie doch in der ganzen Zeit, da ich sie kannte, nur selten ganz offen gegen mich und empfand außer an diesem Tag nur selten das Bedürfnis, mit mir von ihrer Vergangenheit zu reden; im Gegenteil, sie suchte sie mir sogar mit finsterer Miene zu verbergen. Aber an diesem Tag teilte sie mir im Verlauf einiger Stunden, oft von qualvollem, krampfhaftem Schluchzen in ihrer Erzählung unterbrochen, alles mit, was sie unter ihren Erinnerungen am meisten aufregte und marterte, und ich werde diese furchtbare Erzählung nie vergessen. Doch ihre ganze Lebensgeschichte steht noch vor uns…

      Es war eine furchtbare Geschichte; es war die Geschichte einer verlassenen Frau, die ihr Glück überlebt hatte, einer kranken, zermarterten, von allen verlassenen Frau, die sich sogar von dem letzten Wesen zurückgestoßen sah, auf das sie noch hatte hoffen können, von ihrem Vater, den sie einmal gekränkt hatte und der nun seinerseits infolge der unerträglichen Leiden und Demütigungen geistesgestört geworden war. Es war die Geschichte einer Frau, die zur Verzweiflung gelangt war und mit ihrem Töchterchen, das sie noch für ein Kind hielt, durch die kalten, schmutzigen Straßen Petersburgs wanderte und bettelte; die Geschichte einer Frau, die dann monatelang in einer feuchten Kellerwohnung im Sterben lag und der der eigene Vater bis zum letzten Augenblick ihres Lebens seine Verzeihung versagte; erst im letzten Augenblick war er anderen Sinnes geworden und hingeeilt, um ihr zu verzeihen, hatte aber nun nur einen kalten Leichnam statt derjenigen gefunden, die er über alles in der Welt geliebt hatte. Es war eine seltsame Erzählung von den geheimnisvollen, kaum begreiflichen Beziehungen des geistesschwach gewordenen Greises zu seiner kleinen Enkelin, die ihn schon verstand, die trotz ihres kindlichen Lebensalters schon vieles verstand, zu dessen Erkenntnis mancher in seinem gesamten sorglosen, glatt verlaufenden Leben nicht gelangt. Es war eine trübe Geschichte, eine jener trüben, qualvollen Geschichten, wie sie sich so oft und unauffällig, fast im geheimen, unter dem drückenden Petersburger Himmel abspielen, in den dunklen, versteckten Seitengassen der riesigen Stadt, mitten in dem sinnlos brodelnden Leben, dem stumpfsinnigen Egoismus, den einander bekämpfenden Interessen, den düsteren Lastern, den geheimen Verbrechen, mitten in diesem schrecklichen Höllenpfuhl voll unsinnigen, naturwidrigen Lebens …

      Doch diese Geschichte steht noch vor uns.

      Dritter Teil

      Erstes Kapitel

      Erst als schon längst die Dämmerung eingetreten und es Abend geworden war, erwachte ich wie aus einem schweren Traum und kehrte in die Wirklichkeit zurück.

      »Nelly«, sagte ich, »du bist jetzt krank und erregt; aber ich muß dich allein und in Tränen verlassen. Liebes Kind! verzeih es mir und wisse, daß es auch hier ein geliebtes, der Verzeihung entbehrendes Wesen gibt, ein unglückliches, gekränktes, verlassenes Wesen. Sie erwartet mich. Und auch ich selbst fühle mich jetzt nach deiner Erzählung unwiderstehlich zu ihr hingezogen; mir ist, als müßte ich zugrunde gehen, wenn ich sie nicht sogleich, diesen Augenblick, sehe…«

      Ich weiß nicht, ob Nelly alles verstand, was ich zu ihr sagte. Ich befand mich in heftiger Aufregung, sowohl infolge der Erzählung als auch infolge der soeben durchgemachten Krankheit; aber ich eilte zu Natascha. Es war schon spät, zwischen acht und neun, als ich zu ihrem Haus gelangte.

      Schon auf der Straße, am Tor des Hauses, in welchem Natascha wohnte, bemerkte ich eine Equipage, und es schien mir, daß es die des Fürsten sei. Der Eingang zu Nataschas Wohnung war vom Hof aus. Kaum hatte ich angefangen, die Stufen hinaufzusteigen, als ich vor mir, eine Treppe höher, einen Menschen hörte, der offenbar mit der Örtlichkeit unbekannt war und sich vorsichtig tastend hinaufarbeitete. Ich sagte mir, es müsse der Fürst sein, wurde aber alsbald wieder an dieser Meinung irre. Der Unbekannte schimpfte und fluchte beim Hinaufsteigen laut über diese Passage, und zwar in um so kräftigeren, energischeren Ausdrücken, je höher er kam. Gewiß, die Treppe war eng, schmutzig, steil, nirgends beleuchtet; aber solche Schimpfworte, wie sie beim dritten Stockwerk anfingen, hätte ich dem Fürsten nie zuschreiben können: der hinaufsteigende Herr schimpfte wie ein Droschkenkutscher. Aber nach dem dritten Stockwerk wurde es wenigstens hell; denn an Nataschas Tür im vierten Stock brannte ein kleines Lämpchen. Unmittelbar an der Tür holte ich meinen Unbekannten ein, und wie groß war mein Erstaunen, als ich in ihm wirklich den Fürsten erkannte! Es schien ihm sehr unangenehm zu sein, daß er so unerwartet mit mir zusammentraf. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht; aber dann veränderte sich auf einmal sein Gesicht. Sein ursprünglich zorniger, feindseliger Blick wurde auf einmal höflich und heiter, und mit dem Ausdruck außerordentlicher Freude streckte er mir beide Hände hin.

      »Ah, Sie sind es! Ich wollte eben auf die Knie fallen und Gott um Rettung meines Lebens bitten. Haben Sie gehört, wie ich geschimpft habe?«

      Und er lachte in der gutmütigsten Art. Aber plötzlich nahm sein Gesicht einen ernsten, bekümmerten Ausdruck an.

      »Wie hat Aljoscha nur Natalja Nikolajewna in einer solchen Wohnung unterbringen können!« sagte er, den Kopf hin und her wiegend. »Diese sogenannten Kleinigkeiten charakterisieren den Menschen. Ich bin um ihn recht besorgt. Er ist ein guter Mensch und hat ein edles Herz; aber da haben Sie gleich ein Pröbchen: er liebt sinnlos und bringt diejenige, die er liebt, in einem so elenden Quartier unter! Ich habe sogar gehört, daß manchmal kein Brot dagewesen ist«, fügte er flüsternd hinzu, während er den Klingelgriff suchte. »Mir wird angst und bange, wenn ich an seine Zukunft denke und namentlich an Anna Nikolajewnas Zukunft, wenn sie seine Frau sein wird …«

      Er hatte sich im Vornamen geirrt und es nicht gemerkt, da er sich offenbar darüber ärgerte, daß er den Klingelzug nicht fand. Aber ein Klingelzug war überhaupt nicht da. Ich rüttelte ein wenig an der Türklinke, und Mawra öffnete uns sofort und empfing uns geschäftig. In der Küche, die von dem winzigen Vorzimmer nur durch eine hölzerne Halbwand abgeteilt war, waren durch die offenstehende Tür mancherlei Vorbereitungen zu bemerken; alles war mit besonderer Sauberkeit abgewischt und gereinigt; im Herd brannte Feuer; auf dem Tisch stand etwas neues Geschirr. Es war deutlich, daß wir erwartet worden waren. Mawra


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