Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Jelena aufschrie; sie schlug die Hände zusammen und stürzte zu mir hin, um mich zu halten. Das war der letzte Augenblick, der in meinem Gedächtnis haftete …

      Als ich wieder einigermaßen zur Besinnung kam, lag ich im Bett. Jelena erzählte mir später, sie habe mit dem Hausknecht zusammen, der das Essen brachte, mich auf das Sofa gelegt. Mehrmals wachte ich auf und erblickte jedesmal das sich über mich beugende, mitleidige, sorgenvolle Gesichtchen Jelenas. Aber an all das erinnere ich mich nur wie in einem Dämmerzustand, wie in einem Nebel, und die liebliche Gestalt des armen Mädchens huschte in den lichten Augenblicken an mir vorbei wie eine Vision, wie ein Zauberbildchen; Jelena brachte mir zu trinken, machte es mir auf dem Bett bequem oder saß traurig und ängstlich vor mir und strich mir mit ihren Fingerchen das Haar glatt. Ich erinnere mich auch, daß sie mir einmal einen leisen Kuß auf das Gesicht drückte. Ein andermal, als ich plötzlich in der Nacht zum Bewußtsein gelangte, sah ich beim Schein der schon stark heruntergebrannten Kerze, die vor mir auf einem an das Sofa herangerückten Tischchen stand, daß Jelena mit dem Gesicht auf meinem Kissen lag und mit einem Ausdruck von Angst schlief; die blassen Lippen waren halbgeöffnet, die eine heiße Wange lag in der Handfläche. Aber vollständig zu mir kam ich erst frühmorgens. Die Kerze war ganz heruntergebrannt; die hellen, rosigen Strahlen der beginnenden Morgenröte spielten schon an der Wand. Jelena saß auf einem Stuhl am Tisch; sie hatte ihr müdes Köpfchen auf den linken Arm gelegt, der auf dem Tisch lag, und schlief fest; ich konnte mich gar nicht satt sehen an ihrem Kindergesichtchen: auch im Schlaf zeigte es einen nicht mehr kindlichen Ausdruck von Traurigkeit und eine seltsame, schmerzlich anmutende Schönheit; es war blaß, von pechschwarzem Haar umrahmt, das dicht und schwer in einem nachlässig gebundenen Knoten seitwärts herunterfiel; die langen Wimpern lagen auf den mageren Wangen. Ihr anderer Arm lag auf meinem Kissen. Ich küßte ganz leise dieses magere Händchen; aber das arme Kind erwachte nicht; es schien nur ein Lächeln über ihre blassen Lippen zu gleiten. Ich blickte sie unverwandt an und versank unvermerkt in einen ruhigen, heilsamen Schlaf. Diesmal erwachte ich erst kurz vor zwölf Uhr. Nach dem Aufwachen fühlte ich mich fast ganz genesen. Nur eine Schwäche und Schwere in allen Gliedern zeugte von der soeben überstandenen Krankheit. Ähnliche schnell vorübergehende Nervenanfälle waren bei mir auch schon früher vorgekommen; ich kannte sie gut. Die Krankheit ging gewöhnlich in der Zeit von vierundzwanzig Stunden fast vollständig vorüber, was sie übrigens nicht hinderte, innerhalb dieser Zeit recht stark und unangenehm zu wirken.

      Es war schon beinahe zwölf Uhr. Das erste, was ich sah, war der gestern von mir gekaufte Vorhang, der in der Ecke an einer Schnur aufgehängt war. Das hatte sich Jelena zurechtgemacht und sich so im Zimmer ein besonderes Winkelchen geschaffen. Sie saß vor dem Ofen und kochte Tee. Als sie bemerkte, daß ich erwacht war, lächelte sie heiter und trat sogleich zu mir.

      »Liebes Kind«, sagte ich, indem ich sie bei der Hand ergriff, »du hast mich die ganze Nacht behütet. Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein so gutes Herz hast.«

      »Aber woher wissen Sie, daß ich Sie behütet habe? Vielleicht habe ich die ganze Nacht über geschlafen?« fragte sie, mich mit gutmütiger, verschämter Schelmerei ansehend und gleichzeitig über ihre eigenen Worte verlegen errötend. »Ich bin wiederholt aufgewacht und habe alles gesehen. Du bist erst kurz vor dem Tagwerden eingeschlafen.«

      »Wollen Sie Tee?« unterbrach sie mich, wie wenn es ihr peinlich wäre, dieses Gespräch fortzusetzen, wie das bei allen keuschen, streng redlichen Herzen der Fall ist, wenn sie gelobt werden.

      »Ja, bitte«, antwortete ich. »Aber hast du gestern zu Mittag gegessen?«

      »Nein, aber zu Abend. Der Hausknecht hatte etwas gebracht. Sie sollten übrigens nicht soviel reden, sondern ruhig liegen; Sie sind noch nicht ganz gesund«, fügte sie hinzu, während sie mir den Tee brachte und sich auf mein Bett setzte.

      »Ach was, ruhig liegen! Bis zur Dämmerzeit will ich übrigens liegenbleiben; dann aber werde ich ausgehen. Das ist unumgänglich notwendig, liebe Jelena.«

      »Ach, wie kann denn das notwendig sein! Zu wem wollen Sie denn gehen? Doch nicht zu dem Herrn, der gestern hier war?«

      »Nein, zu dem nicht.«

      »Das ist gut, daß Sie nicht zu dem wollen. Der hat Sie gestern sehr aufgeregt. Also gehen Sie wohl zu seiner Tochter?«

      »Woher weißt du etwas von seiner Tochter?«

      »Ich habe gestern alles gehört«, antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen.

      Ihr Gesicht verfinsterte sich; die Augenbrauen zogen sich zusammen.

      »Er ist ein schlechter alter Mann«, fügte sie dann hinzu.

      »Kennst du ihn denn? Im Gegenteil, er ist ein sehr guter Mensch.«

      »Nein, nein, er ist ein böser Mensch; ich habe es gehört«, antwortete sie lebhaft.

      »Was hast du denn gehört?«

      »Er will seiner Tochter nicht verzeihen …«

      »Aber er liebt sie. Sie hat sich gegen ihn vergangen, und doch sorgt er für sie und grämt sich um sie.«

      »Aber warum verzeiht er ihr nicht? Bei dieser jetzigen Art von Verzeihung würde die Tochter gar nicht einmal wieder zu ihm ziehen.«

      »Wieso? Warum?«

      »Weil er es nicht verdient, daß seine Tochter ihn liebt«, antwortete sie erregt. »Mag sie für immer von ihm weggehen und lieber betteln, und mag er dann sehen, daß seine Tochter bettelt, und sich grämen!«

      Ihre Augen funkelten, ihre Wangen glühten. ›Gewiß redet sie so nicht ohne besonderen Grund‹, dachte ich bei mir.

      »Und zu dem wollten Sie mich ins Haus geben?« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

      »Ja, Jelena.«

      »Nein, lieber verdinge ich mich als Magd.«

      »Ach, wie häßlich ist das alles, was du da redest, liebe Jelena! Und was ist das für Torheit: bei wem kannst du dich verdingen?«

      »Bei jedem gewöhnlichen Mann«, antwortete sie ungeduldig; sie ließ den Kopf immer tiefer hängen.

      Sie war auffallend heftig.

      »Ein gewöhnlicher Mann kann eine solche Magd nicht gebrauchen«, erwiderte ich lächelnd.

      »Nun, dann bei einer Herrschaft.«

      »Mit deinem Charakter willst du bei einer Herrschaft leben?«

      »Gewiß.«

      Je mehr sie in Erregung geriet, um so schroffer wurden ihre Antworten.

      »Aber du wirst es nicht aushalten.«

      »Doch, ich werde es aushalten. Sie werden mich schelten, aber ich werde absichtlich schweigen. Sie werden mich schlagen; aber ich werde immer schweigen, immer schweigen; mögen sie mich schlagen, ich werde um keinen Preis weinen. Sie werden sich krank darüber ärgern, daß ich nicht weine.«

      »Was redest du, Jelena! Was steckt in dir für eine Verbitterung; und wie stolz bist du! Du hast gewiß viel Leid erfahren…« Ich stand auf und trat an meinen großen Tisch. Jelena blieb auf dem Sofa sitzen, blickte nachdenklich zu Boden und zupfte mit den Fingern an der Kante des Bezugs. Sie schwieg. »Ob sie mir meine Worte übelgenommen hat?« dachte ich.

      Am Tisch stehend, schlug ich mechanisch die Bücher auf, die ich tags zuvor zum Zweck der kompilatorischen Arbeit mitgebracht hatte, und ließ mich allmählich durch die Lektüre fesseln. Es geht mir oft so: ich trete heran, schlage ein Buch für einen Augenblick auf, um etwas nachzusehen, und lese mich so fest, daß ich alles um mich herum vergesse.

      »Was schreiben Sie da immer?« fragte Jelena, die leise an den Tisch herankam, mit einem schüchternen Lächeln. »Allerlei, liebe Jelena. Ich bekomme dafür Geld, bezahlt.«

      »Eingaben?«

      »Nein, Eingaben nicht.«

      Ich erklärte ihr, so gut ich konnte, daß ich allerlei Geschichten schriebe, von allerlei Leuten; daraus entständen Bücher, die man Novellen und Romane nenne. Sie hörte mit großer Aufmerksamkeit zu.

      »Schreiben Sie da immer nur die Wahrheit?«

      »Nein,


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