Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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angesehen. Du kannst doch lesen?«

      »Ja.«

      »Nun, dann wirst du ja selbst sehen. Dieses Buch habe ich geschrieben.«

      »Sie? Dann werde ich es lesen…«

      Sie hatte die größte Lust, mir noch etwas zu sagen; aber es machte ihr offenbar Schwierigkeiten, und sie befand sich in der größten Aufregung. Hinter ihren Fragen versteckte sich etwas.

      »Bekommen Sie viel dafür bezahlt?« fragte sie schließlich.

      »Wie es sich trifft. Manchmal viel, manchmal aber auch gar nichts, wenn die Arbeit nicht vom Fleck kommen will. Es ist eine schwere Arbeit; liebe Jelena.«

      »Also sind Sie nicht reich?«

      »Nein, reich bin ich nicht.«

      »Dann werde ich arbeiten und Ihnen helfen.«

      Sie blickte schnell zu mir auf, errötete, schlug die Augen nieder, tat zwei Schritte auf mich zu, schlang plötzlich beide Arme um meinen Hals und drückte ihr Köpfchen ganz fest an meine Brust. Ich sah sie erstaunt an.

      »Ich habe Sie lieb… ich bin nicht stolz«, sagte sie. »Sie sagten gestern, ich sei stolz. Nein, nein… das bin ich nicht… ich habe Sie lieb. Sie sind der einzige, der mich liebhat…«

      Aber die Tränen drohten sie zu ersticken. Einen Augenblick darauf brachen sie aus ihrer Brust mit derselben Gewalt hervor wie tags zuvor bei dem Anfall. Sie fiel vor mir auf die Knie und küßte meine Hände, meine Füße…

      »Sie haben mich lieb!…« wiederholte sie; »Sie sind der einzige, der einzige!…«

      Krampfhaft hielt sie meine Knie mit ihren Armen umfaßt. Ihr ganzes so lange zurückgehaltenes Gefühl brach auf einmal mit unhemmbarer Gewalt nach außen hindurch, und ich verstand nun diesen seltsamen Trotz eines Herzens, das sich lange Zeit keusch verbirgt, und zwar um so hartnäckiger, um so finsterer, je stärker das Bedürfnis wird, sich auszuschütten, sich ganz auszusprechen, bis zum unvermeidlichen Ausbruch, wo sich dann das ganze Wesen auf einmal bis zur Selbstvergessenheit diesem Bedürfnis der Liebe und Dankbarkeit hingibt, sich in Liebkosungen nicht genugtun kann, sich in Tränen ergießt…

      Sie schluchzte so, daß sie geradezu einen Weinkrampf bekam. Mit Gewalt löste ich ihre Arme, die mich umschlangen. Ich hob sie auf und trug sie auf das Sofa. Noch lange schluchzte sie weiter, das Gesicht in den Kissen verbergend, wie wenn sie sich schämte, mich anzusehen; aber sie drückte meine Hand fest in ihrem kleinen Händchen zusammen und hielt sie immer noch an ihr Herz. Allmählich wurde sie ruhiger; aber das Gesicht hob sie immer noch nicht zu mir auf. Einige Male huschten ihre Augen schnell über mein Gesicht hin, und es lag in ihnen eine unendliche Weichheit und schüchterne, sich von neuem versteckende Empfindung. Zuletzt errötete sie und lächelte.

      »Ist dir nun leichter?« fragte ich, »du meine weiche Jelena, du mein krankes Kind!«

      »Nennen Sie mich nicht Jelena, nein…«, flüsterte sie, indem sie ihr Gesichtchen immer noch vor mir verbarg. »Nicht Jelena? Wie soll ich dich denn nennen?« »Nelly.«

      »Nelly? Warum denn gerade Nelly? Nun, meinetwegen; das ist ein sehr hübscher Name. Dann werde ich dich also so nennen, wenn du es selbst wünschst.« »So hat mich Mama genannt… niemand hat mich jemals so genannt als sie… Ich wollte selbst nicht, daß mich ein anderer als Mama so nennte… Aber Sie sollen mich so nennen; das will ich… Ich werde Sie immer liebhaben, immer!«

      ›Du liebevolles, stolzes Herzchen!‹ dachte ich. ›Wie lange mußte ich mich um dich mühen, bis du für mich Nelly wurdest !‹

      Aber jetzt wußte ich bereits, daß ihr Herz sich mir für das ganze Leben ergeben hatte.

      »Nelly, höre einmal«, sagte ich, sobald sie sich beruhigt hatte. »Du sagtest eben, nur deine Mama hätte dich liebgehabt, sonst niemand. Aber hat dich denn dein Großvater nicht wirklich liebgehabt?« »Nein, das hat er nicht…«

      »Aber du hast hier doch um ihn geweint, erinnerst du dich? Auf der Treppe.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein, er hat mich nicht liebgehabt… Er war schlecht.« Ein schmerzliches Gefühl prägte sich auf ihrem Gesicht aus.

      »Man konnte doch nicht mehr viel von ihm verlangen, Nelly. Er war ja schon ganz geistesschwach geworden. Er ist auch wie ein Irrsinniger gestorben. Ich habe dir ja erzählt, wie er gestorben ist.«

      »Ja; aber nur im letzten Monat war er so ganz geistesabwesend. Er saß manchmal hier einen ganzen Tag lang, und wenn ich nicht zu ihm gekommen wäre, hätte er auch einen zweiten und dritten Tag so gesessen, ohne zu essen und zu trinken. Früher aber war es mit ihm weit besser.«

      »Wann denn früher?«

      »Als Mama noch nicht gestorben war.«

      »Also du hast ihm etwas zu essen und zu trinken gebracht, Nelly?«

      »Ja.«

      »Wo hast du es denn herbekommen? Von Frau Bubnowa?«

      »Nein, von Frau Bubnowa habe ich nie etwas genommen«, antwortete sie energisch; aus ihrem Ton hörte man einen Schauder heraus.

      »Wo hast du es denn dann herbekommen? Du hattest doch nichts?«

      Nelly schwieg ein Weilchen und wurde furchtbar blaß; dann sah sie mich mit einem langen, langen Blick an.

      »Ich bin auf die Straße gegangen und habe gebettelt… Wenn ich fünf Kopeken erbettelt hatte, kaufte ich ihm Brot und Schnupftabak…«

      »Und das hat er zugelassen? Nelly, Nelly!«

      »Anfangs sagte ich ihm nichts davon, daß ich bettelte. Aber als er es erfuhr, da trieb er mich selbst dazu an. Ich stand auf einer Brücke und bat die Vorübergehenden um Almosen, und er ging in der Nähe der Brücke auf und ab; und wenn er sah, daß mir jemand etwas gegeben hatte, dann stürzte er auf mich zu und nahm mir das Geld weg, als ob ich es vor ihm verstecken wollte und nicht für ihn erbettelt hätte.«

      Bei diesen Worten trat ein bitteres, trauriges Lächeln auf ihre Lippen.

      »Das war alles, nachdem Mama gestorben war«, fügte sie hinzu. »Danach wurde er ganz wie irrsinnig.« »Also hat er deine Mama sehr liebgehabt? Warum wohnte er denn nicht mit ihr zusammen?« »Nein, er hatte sie nicht lieb … Er war ein böser Mensch und verzieh ihr nicht… ebenso wie der böse alte Mann von gestern«, sagte sie leise, fast flüsternd, und wurde dabei immer blasser und blasser.

      Ich fuhr zusammen. Das ganze Geflecht eines Romans lag auf einmal offen vor meinem Blick da: diese arme Frau, die in der Kellerwohnung des Sargtischlers starb, ihre als Waise zurückbleibende Tochter, die manchmal den Großvater besuchte, der ihre Mutter verflucht hatte, der geistesschwach gewordene alte Mann, der nach dem Tod seines Hundes in der Konditorei starb!… »Asorka hatte einstmals Mama gehört«, sagte Nelly auf einmal und lächelte wie infolge einer Erinnerung. »Der Großvater hatte Mama früher sehr liebgehabt, und als Mama von ihm wegging, blieb Mamas Asorka bei ihm. Daher hatte er Asorka so lieb. Er hat Mama nicht verziehen; aber als der Hund gestorben war, ist er auch gestorben«, fügte Nelly finster hinzu; das Lächeln war von ihrem Gesicht verschwunden.

      »Was war er denn früher, Nelly?« fragte ich, nachdem ich ein Weilchen gewartet hatte.

      »Er war früher reich… Ich weiß nicht, was er eigentlich war«, antwortete sie. »Er hatte eine Fabrik… So hat mir Mama gesagt. Sie dachte anfangs, ich wäre noch zu klein, und sagte mir nicht alles. Sie küßte mich sehr viel und sagte: »Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit kommt; alles wirst du erfahren, du armes, unglückliches Kind!« Und immer nannte sie mich arm und unglücklich. Und oft, wenn sie in der Nacht meinte, ich schliefe (aber ich schlief nicht, sondern stellte mich nur absichtlich so), dann beugte sie sich über mich und weinte und küßte mich und sagte: »Du armes, unglückliches Kind!« «

      »Woran ist denn deine Mama gestorben?«

      »An der Schwindsucht; es ist jetzt sechs Wochen her.«

      »Und erinnerst du dich noch an die Zeit, als dein Großvater reich war?« »Damals war ich ja noch gar nicht geboren. Mama war noch vor meiner Geburt vom Großvater weggegangen. « »Mit wem war sie denn weggegangen?«

      »Das


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