Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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gingen zu Natascha hinein. In ihrem Zimmer waren keine besonderen Vorbereitungen sichtbar; alles war wie gewöhnlich. Übrigens war bei ihr immer alles so sauber und nett, daß nicht erst besonders aufgeräumt zu werden brauchte. Natascha empfing uns an der Tür stehend. Ich erschrak über die krankhafte Magerkeit und außerordentliche Blässe ihres Gesichtes, obgleich für einen Augenblick eine Röte auf ihren totenbleichen Wangen aufflammte. Ihre Augen waren fieberhaft. Schweigend streckte sie dem Fürsten eilig die Hand hin, in sichtlicher Beängstigung und Verwirrung. Mich sah sie überhaupt nicht an. Ich stand da und wartete schweigend.

      »Da bin ich!« begann der Fürst in freundschaftlichem, heiterem Ton. »Erst vor einigen Stunden bin ich zurückgekehrt. Diese ganze Zeit über sind Sie mir nicht aus dem Kopf gekommen« (er küßte ihr zärtlich die Hand); »wieviel, wieviel habe ich an Sie gedacht! Wieviel habe ich Ihnen zu sagen und mitzuteilen! . .. Nun, jetzt wollen wir uns nach Herzenslust aussprechen! Erstens, mein Leichtfuß, der, wie ich sehe, noch nicht hier ist…« »Erlauben Sie, Fürst«, unterbrach ihn Natascha, verlegen errötend; »ich muß ein paar Worte mit Iwan Petrowitsch sprechen. Komm, Wanja… nur ein paar Worte…«

      Sie faßte mich bei der Hand und führte mich hinter den Wandschirm.

      »Wanja«, sagte sie flüsternd, indem sie mich in die dunkelste Ecke zog, »verzeihst du mir?«

      »Aber ich bitte dich, Natascha, was redest du da!«

      »Nein, nein, Wanja, du hast mir ja sehr oft und sehr vieles verziehen; aber jede Geduld hat doch schließlich ein Ende. Du wirst nie aufhören, mich zu lieben, das weiß ich; aber du wirst mich undankbar nennen, und ich war auch gestern und vorgestern gegen dich undankbar, egoistisch, grausam…«

      Sie brach plötzlich in Tränen aus und drückte ihr Gesicht an meine Schulter.

      »Hör auf, Natascha!« suchte ich sie eilig zu beruhigen. »Ich bin die ganze Nacht über sehr krank gewesen und kann mich auch jetzt kaum auf den Beinen halten; das ist der Grund, weshalb ich weder gestern abend noch heute hergekommen bin; und da denkst du nun, ich sei dir böse! Meine teure Freundin, ich weiß ja doch, was jetzt in deiner Seele vorgeht!«

      »Nun gut… also du hast mir verziehen wie immer«, sagte sie; sie lächelte durch ihre Tränen und drückte mir die Hand, so daß es mich schmerzte. »Das übrige nachher! Ich habe dir viel zu sagen, Wanja. Aber jetzt will ich zu ihm…«

      »Recht schnell, Natascha; wir haben ihn so plötzlich verlassen…«

      »Du wirst sehen, du wirst sehen, was geschehen wird«, flüsterte sie mir hastig zu. »Ich weiß jetzt alles; ich habe alles durchschaut. An allem ist er schuld, er allein. Heute abend wird sich vieles entscheiden. Komm!«

      Ich verstand sie nicht, hatte aber zum Fragen keine Zeit mehr. Natascha ging mit heiterem Gesicht auf den Fürsten zu. Er stand immer noch mit dem Hut in der Hand da. Sie entschuldigte sich in munterem Ton bei ihm, nahm ihm den Hut ab, rückte ihm selbst einen Stuhl zurecht, und wir setzten uns alle drei um ihr Tischchen.

      »Ich fing an, von meinem Leichtfuß zu reden«, fuhr der Fürst fort; »ich habe ihn nur einen Augenblick gesehen, und zwar auf der Straße, als er in den Wagen stieg, um zur Gräfin Sinaida Fjodorowna zu fahren. Er hatte es furchtbar eilig, und denken Sie: er wollte nach vier Tagen der Trennung nicht einmal mit mir in die Wohnung hinaufkommen! Und ich glaube, Natalja Nikolajewna, ich bin selbst daran schuld, daß er jetzt nicht bei Ihnen ist und ich vor ihm hergekommen bin; ich habe nämlich die Gelegenheit benutzt und, da ich selbst heute nicht bei der Gräfin sein konnte, ihm einen Auftrag mitgegeben. Aber er wird jeden Augenblick erscheinen.«

      »Hat er Ihnen bestimmt versprochen, heute herzukommen?« fragte Natascha, den Fürsten mit der harmlosesten Miene anblickend.

      »Ach, mein Gott, wie sollte er denn nicht herkommen? Wie können Sie nur so fragen!« rief er, sie erstaunt anblickend. »Übrigens, ich verstehe: Sie sind über ihn aufgebracht. Und in der Tat, es ist dumm von ihm, daß er von allen zuletzt kommt. Aber ich wiederhole: ich bin schuld daran. Seien Sie ihm nicht böse! Er ist leichtsinnig, ein Windhund; ich verteidige ihn nicht; aber gewisse besondere Umstände verlangen, daß er die Besuche im Hause der Gräfin und in einigen anderen Familien jetzt nicht einstellt, sondern im Gegenteil sich dort recht oft zeigt. Nun, und da er wahrscheinlich jetzt nicht von Ihrer Seite weicht und alles andere in der Welt vergessen hat, so werden Sie es vielleicht nicht übelnehmen, wenn ich ihn Ihnen manchmal auf ein paar Stunden, nicht für längere Zeit, durch meine Aufträge entziehe. Ich bin überzeugt, daß er seit jenem Abend noch nicht ein einziges Mal bei der Fürstin K. gewesen ist, und ärgere mich, daß ich vorhin keine Zeit gehabt habe, ihn danach zu fragen! …«

      Ich blickte Natascha an. Sie hörte dem Fürsten mit einem leisen, ein wenig spöttischen Lächeln zu. Aber er sprach so offen, so ungekünstelt. Es war, wie es schien, gar nicht möglich, irgendwelchen Verdacht gegen ihn zu hegen. »Und Sie haben wirklich nicht gewußt, daß er diese ganzen Tage her auch nicht ein einziges Mal bei mir gewesen ist?« fragte Natascha mit leiser, ruhiger Stimme, als ob sie von einem Vorgang spräche, der ihr vollkommen gleichgültig sei.

      »Wie? Er ist kein einziges Mal hier gewesen? Erlauben Sie, was sagen Sie da!« rief der Fürst, anscheinend auf das äußerste überrascht.

      »Sie waren am Dienstag spätabends bei mir; am andern Morgen ist er auf eine halbe Stunde zu mir gekommen, und seitdem habe ich ihn kein einziges Mal gesehen.« »Aber das ist unglaublich!« (Er geriet in immer größeres Erstaunen.) »Und ich glaubte geradezu, er wiche nicht von Ihrer Seite. Entschuldigen Sie, das ist so seltsam … einfach unglaublich.«

      »Aber doch ist es wahr. Und wie schade: ich hatte gerade auf Sie gewartet, weil ich von Ihnen zu erfahren hoffte, wo er sich eigentlich befindet!«

      »Ach, mein Gott! Nun, er wird ja gleich hier sein! Aber das, was Sie mir gesagt haben, hat mich dermaßen überrascht, daß ich… ich muß gestehen, ich hätte alles mögliche von ihm erwartet, aber das nicht… das nicht!«

      »Wie erstaunt Sie sind! Und ich hatte gedacht, Sie würden sich gar nicht wundern, ja Sie hätten sogar im voraus gewußt, daß es so kommen werde.«

      »Gewußt! Ich? Aber ich versichere Ihnen, Natalja Nikolajewna, daß ich ihn heute nur einen Augenblick gesehen und mich bei niemand nach ihm erkundigt habe; es befremdet mich, daß Sie mir anscheinend nicht glauben«, fuhr er fort, indem er uns beide abwechselnd ansah.

      »Gott behüte!« fiel Natascha ein. »Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß Sie die Wahrheit gesagt haben.«

      Sie lachte wieder, diesmal dem Fürsten gerade ins Gesicht, so daß er unwillkürlich zusammenzuckte.

      »Erklären Sie sich deutlicher!« sagte er in einiger Verwirrung.

      »Zu erklären ist hier eigentlich nichts. Ich rede doch einfach und verständlich. Sie wissen ja, wie leichtsinnig und vergeßlich er ist. Nun, und da ihm jetzt volle Freiheit gelassen war, hat er sich eben gehenlassen.«

      »Aber sich so gehenzulassen, das ist doch unerhört; da muß irgend etwas dahinterstecken, und sowie er kommt, werde ich ihn veranlassen, die Sache aufzuklären. Aber am meisten wundere ich mich darüber, daß Sie auch mir eine gewisse Schuld beizumessen scheinen, obwohl ich doch gar nicht hier gewesen bin. Übrigens sehe ich, Natalja Nikolajewna, daß Sie auf ihn sehr erzürnt sind, und das ist ja auch begreiflich! Sie haben dazu ein volles Recht, und … und … selbstverständlich geht es in erster Linie über mich her, wenn auch nur deswegen, weil ich als erster hier erschienen bin, nicht wahr?« fuhr er, sich mit einem gereizten Lächeln an mich wendend, fort.

      Natascha fuhr auf und wurde dunkelrot.

      »Erlauben Sie, Natalja Nikolajewna«, fuhr er in würdigem Ton fort; »ich gebe zu, daß mich eine gewisse Schuld trifft, aber nur darin, daß ich gleich am nächsten Tag nach unserer Bekanntschaft weggereist bin, so daß Sie bei der Neigung zum Mißtrauen, die ich an Ihrem Charakter wahrnehme, schon Zeit gefunden haben, Ihre Meinung über mich zu ändern, und zwar um so leichter, da die Umstände dazu mitwirkten. Wäre ich nicht weggereist, so hätten Sie mich besser kennengelernt, und auch Aljoscha hätte sich unter meiner Aufsicht nicht so leichtsinnig benommen. Sie werden aber gleich heute hören, was ich ihm sagen werde.«

      »Das


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