AUSRADIERT. Martin S. Burkhardt

AUSRADIERT - Martin S. Burkhardt


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fuhren über die kratzenden Wangen. Warum behandelte man ihn wie einen Schwerverbrecher in Isolationshaft?

      ***

      Die Mittagszeit verstrich, ebenso der halbe Nachmittag. Durfte man ihn überhaupt dermaßen lange in eine Zelle sperren? Dazu noch ohne Verpflegung? Plötzlich wurde eine Tür geöffnet. Eilige Schritte waren zu hören. Endlich! Mehrere Leute schienen direkt auf seine Zelle zuzugehen. Die Tür wurde aufgeschlossen. Moritz setzte sich aufrecht auf seine Pritsche. Noch während er überlegte, ob er den Beleidigten spielen und sich nicht rühren sollte, schoben sich drei Schatten in die Zelle. Eine junge Frau mit langen, blonden Haaren wurde von zwei Beamten flankiert. Sie trug einen leichten Sommermantel. Darunter konnte Moritz einen schwarzen Minirock und eine dunkelrote Korsage erkennen. Die Polizisten gaben ihr einen sanften Schubs.

       »Die Leute aus der Mozart Straße möchten nicht, dass ihre Gegend zum Straßenstrich wird«, sagte einer der Beamten. »Hier kannst du darüber nachdenken, ob du zukünftig nicht lieber woanders stehen willst.«

       Die Frau brummte nur und stakste mit ihren hochhackigen Schuhen weiter in die Zelle hinein. Dann sah sie Moritz und begann zu lachen.

       »Oh, ein Spielgefährte«, rief sie mit erstaunlich tiefer Stimme. »Wie aufmerksam.«

       Die Beamten folgten ihrem Blick und schauten Moritz verwundert an.

       »Wieso ist diese Zelle besetzt?«, fragte einer von ihnen mit gekräuselter Stirn.

       »Weiß nicht«, sagte der andere und überflog dabei einen schwarzen Ringhefter. »Laut dem Belegungsplan sollte die Zelle frei sein.«

       »Vielleicht hat sich einer der Kollegen in der Nummer geirrt?«

       »Nein. Wir hatten in der Nacht nur zwei Gäste. Den randalierenden Unternehmensberater und einen Obdachlosen. Und die sind längst schon wieder entlassen.«

       Sein Kollege kam auf Moritz zu. »Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte er streng.

       Moritz schüttelte ungläubig den Kopf. Organisatorisch schien in dieser Dienststelle absolutes Chaos zu herrschen.

       »Ihre Kollegen haben mich gestern eingebuchtet«, antwortete er.

       Die Polizisten schauten ihn mit großen Augen an. Dann warf der eine einen weiteren prüfenden Blick in den Hefter.

       »Gestern hat niemand einen Eintrag gemacht«, stellte er fest, während er zwischen mehreren Seiten hin- und herblätterte. »Kommen Sie mal mit.«

       Moritz wurde auf den Flur geführt. Die Beamten verschlossen die Zellentür von außen. Die Pritsche knarrte, als sich die Bordsteinschwalbe darauf setzte. Moritz warf einen Blick durch die Gitterstäbe.

       »Schlafe lieber auf dem Boden. Das ist gemütlicher«, rief er ihr erschöpft zu.

       Anstatt zu antworten, knurrte sie nur bedrohlich.

       Als sie die Treppen hinaufstiegen, protestierte sein ganzer Körper. Jede Bewegung schien einen anderen seiner vielen Muskeln zu quälen. Ein junger Mann, kaum älter als Anfang 20, saß hinter einem Schreibtisch und haute auf seine Tastatur. Er beherrschte tatsächlich das Zehnfingersystem. Ein großes Namensschild in der Mitte des Tisches wies ihn als K. Ahlers aus. Moritz blieb in der Mitte des Raumes stehen.

       »Was sind Sie denn für ein Komiker?«, fragte der Beamte ernst.

       »Wie bitte?« Moritz setzte sich und faltete die Hände über seinem Bauch zusammen. »Ich verstehe nicht.«

       Ahlers rückte seine eckige Brille zurecht. Er drückte verschiedene Male auf seine Maus und wandte sich dann von seinem Bildschirm ab.

       »Wie haben Sie es angestellt, in die Zelle zu kommen? Sind Sie einfach hinein gehuscht, als die Kollegen mit einem der Besoffenen beschäftigt waren?« Er beugte sich über den Tisch und fixierte Moritz mit zusammengekniffenen Augen. »Ist das jetzt der neue Kick? Sich einfach mal in eine Zelle zu begeben und warten was passiert?«

       Moritz blickte über den Schreibtisch. Er hätte für nichts garantieren können, wenn sein Blick irgendwo etwas Essbares entdeckt hätte. Aber leider schien Ahlers seine Vorräte sicher versteckt zu haben. Nicht mal ein Becher stand auf dem Tisch. Moritz zwang sich, in die Augen seines Gegenübers zu sehen.

       »Ihre Kollegen haben mich eingesperrt«, sagte er mit monotoner Stimme.

       Ahlers schüttelte seinen Kopf.

       »Nein, haben sie nicht«, sagte er entschieden.

       »Dann fragen Sie sie doch«, gab Moritz gereizt zurück. Ihm war flau. Wenn der Typ nicht aufpasste, würde er ihn gleich mit Haut und Haaren verspeisen.

       »Wir hatten heute Morgen schon eine Lagebesprechung. Wenn die Kollegen jemanden eingesperrt hätten, wüsste ich davon. Jeder Gast, der bei uns über Nacht bleibt, wird erfasst. Sowohl elektronisch, als auch handschriftlich.« Ahlers nahm den Ringhefter in die Hand, in dem schon der Polizist in der Zelle geblättert hatte. »Kein Eintrag. Weder im Computer noch in diesem Buch. Die Zelle, in der wir Sie fanden, war nicht belegt.« Er machte eine Pause und schaute einen Moment aus dem Fenster. »Wie heißen Sie überhaupt?«

       »Moritz Heber. Meinen Ausweis kann ich ihnen aber leider nicht zeigen. Der ist gefälscht. Das hatten auch ihre Kollegen erkannt und ihn einkassiert.«

       Ahlers stützte seinen Kopf auf die Hände und stöhnte.

       »Meine Güte. Sie sind vielleicht durch ’n Wind. Aber Sie haben Glück.« Er öffnete eine Schublade, holte ein kleines Büchlein hervor, nahm seinen Kugelschreiber und schrieb etwas auf ein Papier. Dann streckte er sich nach einem Stempel, der ganz am Rand des Schreibtisches auf einer Plastikhalterung hing, und drückte ihn behutsam auf den Zettel. Er trennte die Seite ab und reichte sie über den Tisch. »Nehmen Sie.«

       »Was ist das?«

       »Ihr Weg aus der Krise«, sagte Ahlers ernst.

       Während Moritz auf den Zettel starrte, stand der Polizeibeamte auf. »Es läuft zurzeit ein Projekt. Wird gefördert von der Stadt.«

       »Gutschein für eine psychologische Beratung«, las Moritz laut vor.

       »Genau. Es kommt oft vor, dass wir bei unserer Polizeiarbeit auf durchgekna… auf verwirrte Personen treffen. Da gibt es beispielsweise Sprayer, die die ganze Stadt mit ihren Kürzeln überziehen und dabei unter einem krankhaften Drang stehen. Oder Prostituierte, die, geprägt durch ihre Erlebnisse, nicht mehr in der Lage sind, einen vollständigen Satz zu sprechen. Oder Leute, die zwanghaft irgendwelche kranke Dinge machen.« Er musterte Moritz eindringlich. »Etwa, unbemerkt in eine Zelle schleichen. Für alle solche verwirrten Seelen bieten wir eine professionelle Betreuung an. Natürlich auf freiwilliger Basis.« Er legte das Büchlein zurück in die Schublade. »Leider nehmen die meisten Leute dieses Gespräch nie in Anspruch. Daher halte ich von diesem Projekt auch nicht viel. Die meisten Kranken wissen nämlich nicht, dass sie krank sind. Dennoch, wenn ich schon die Möglichkeit habe, solche Gutscheine auszustellen, mache ich es auch. Tun Sie sich einen Gefallen und gehen Sie einfach mal hin.«

       Moritz faltete den Gutschein in der Mitte und steckte ihn in seine Jeans. Er widerstand nur mit Anstrengung dem Versuch, sich den Zettel in den Mund zu schieben. Vielleicht schmeckte Papier ganz gut, wenn man vor Hunger fast umkam? Aber dann hätte ihn der Polizist wahrscheinlich endgültig für übergeschnappt erklärt. Ahlers drehte sich zur Seite, starrte wieder auf seinen Bildschirm und legte seine Hand auf die Maus. »Und nun machen Sie, dass Sie verschwinden.« Moritz beugte sich vor.

       »Wie bitte? Ich darf gehen? Einfach so?«

       Ahlers kräuselte seine Stirn.

       »Sie haben recht. Das ist mir zu gefährlich.« Er drückte einen Knopf. Sekunden später kam ein uniformierter Beamter in das Zimmer. »Geleiten Sie den Herrn bitte auf die Straße und passen Sie auf, dass der Clown nicht in die falsche Richtung abbiegt und sich wieder in einer unserer Zellen versteckt.«

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