AUSRADIERT. Martin S. Burkhardt

AUSRADIERT - Martin S. Burkhardt


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Sie hatte ein gesundes Selbstbewusstsein.

       Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Es gab keine plausible Erklärung für das alles. Er schaltete den Fernseher wieder aus. Die plötzliche Stille lag wie eine schwere Bedrohung in der Luft. Mit jemandem reden, wäre jetzt keine schlechte Sache. Vielleicht würde Tobias zuhören? Aber sein Nachbar hatte doch noch etwas vor. Außerdem wollte Moritz sich nicht aufdrängen. Dann kam ihm eine Idee: Lennart, der alte Krawallmacher. Lennart war einer seiner ältesten Freunde, sie kannten sich seit Grundschultagen. Das Gymnasium hatten sie zu Anfang ebenfalls gemeinsam besucht, bis Lennart von der Schule verwiesen wurde. Er hatte einer Lehrerin in den Hintern gebissen. Moritz kicherte, als die Gedanken daran lebendig wurden. Lennart hatte seine Tat vorher angekündigt …

       Er stand während der Pause auf einer Tischtennisplatte und verkündete, dass Frau Hansen ein Stück vom Allerwertesten einbüßen würde, wenn sie ihm im Deutschaufsatz wieder nur eine Vier geben würde. Er bekam dann schließlich eine Fünf. Zwei Wochen später lauerte er Frau Hansen auf dem Lehrerparkplatz auf. Es war Hochsommer und die Hansen trug einen schlichten, grauen Rock. Lennart pirschte sich von hinten an sie heran, bückte sich und umklammerte blitzschnell ihre Beine. Dann schob er ihren Rock hoch und biss der Frau in die linke Pobacke. Und zwar mit aller Kraft. Moritz und ein weiterer Freund durften bei dieser Tat zusehen. Sie hatten sich zwischen zwei Autos versteckt und verfolgten das Geschehen mit offenen Mündern …

       Moritz kramte das vergilbte Adressbuch aus der bis oben hin vollgestopften Schublade des Eckschrankes heraus. Lennarts Nummer hatte er zwar schon Tausende Male gewählt, aber er besaß nun mal kein gutes Zahlengedächtnis …

       Obwohl sie sich in der Folgezeit nicht mehr täglich sahen, brach der Kontakt zu Lennart nie ab. Als sie älter wurden, unternahmen sie immer wieder ausgedehnte Wochenendtouren. Sie waren in Amsterdam zum Kiffen, in Kopenhagen bei öffentlichen Sexorgien und in Belfast, um gegen die Katholiken zu protestieren. Letzteres wurde ihnen allerdings bald schon zu gefährlich …

       Wieder musste er grinsen. Schnell tippte er die Nummer ein. Ihre Unternehmungen waren in den letzten Jahren zwar seltener geworden, beide hatten sie Freundinnen und inzwischen auch unterschiedliche Interessen, aber dennoch schlief ihre Freundschaft nie ein. Mindestens einmal im Monat meldete sich einer von ihnen. Nun, ehrlicherweise war das meistens Lennart. Also wurde es höchste Zeit, selbst mal wieder die Initiative zu ergreifen und anzurufen.

      ***

       »Was willst du?«, raunte ihn eine brüchig klingende Stimme an.

       Das war nichts Besonderes. Wenn Lennart schlecht drauf war, und das war er ziemlich oft, zischte er stets »Was willst du?« in den Telefonhörer, anstatt sich ordnungsgemäß mit Namen zu melden. Moritz lachte laut.

       »Es tut immer wieder gut, deine Begrüßung zu hören«, stellte er fröhlich fest. Am anderen Ende herrschte Stille. Ungewöhnlich für Lennart. Eigentlich fluchte er immer gleich los. Meistens regte Lennart sich über irgendetwas auf. Hatte ihn sein alter Kumpel am Ende gar nicht erkannt, weil sein Geist mal wieder zugedröhnt war?

       »Hier ist Moritz, du alte Trantüte. Bist du schon wieder im Rausch?«

       Endlich brummte Lennart.

       »Ja …«, sagte er gedehnt. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Das war merkwürdig. Gerade wenn er stoned war, redete Lennart wie ein Wasserfall.

       »Ja?«, wiederholte sein alter Freund jetzt lustlos.

       Ob er gerade in einer furchtbar depressiven Phase steckte? Das konnte schon mal passieren, wenn man das falsche Zeug rauchte.

       »Hör mal, du klingst genauso wie damals in Amsterdam«, sagte Moritz. »Weißt du noch? Als du den ultralangen Joint von dem Schwarzen mit den blond gefärbten Haaren gekauft hast. Meine Güte, warst du danach fertig.«

       Lennart machte ein Geräusch, als ob er sich die Nase putzen würde. Hoffentlich befand sich ein Taschentuch in seiner Nähe. Manchmal war er wirklich ein Schwein.

       »Hör mal Alter«, begann er, »ich habe keinen Schimmer, wer du bist. Und so wie du redest, bin ich froh, niemals etwas mit dir zu tun gehabt zu haben.«

       Moritz lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es war nicht so sehr Lennarts herablassende Stimme, die ihm zusetzte. Vielmehr hatte er im Geiste fast so eine ähnliche Reaktion von ihm erwartet. Und das erschreckte ihn zutiefst. Was, verflucht, stimmte hier nicht?

       »Hör mal, Alter«, sagte Moritz so ruhig er konnte. »Klar kennen wir uns. Schon seit der Grundschule. Ich saß neben dir.« Er erzählte von dem Angriff auf Frau Hansen. »Anschließend bist du vom Gymnasium geflogen.«

       Nun knurrte Lennart durch die Leitung, als ob er der Yeti höchstpersönlich wäre.

       »Mensch, du bist vielleicht durchgeknallt«, stellte er dann fest. »In der Grundschule saß ich neben einem Mädchen mit langen Zöpfen. An denen habe ich immer gezogen und tierischen Ärger bekommen. Der Vorfall mit der ollen Hansen stand damals sogar in der Stadtteilzeitung. Kapier’ es endlich. Ich kenne dich nicht, du Schwachkopf.«

       Im nächsten Moment wurde die Verbindung unterbrochen. Moritz blieb wie angewurzelt auf dem Sofa sitzen. Noch immer presste er den Hörer seines alten Schnurtelefons fest ans Ohr. Plötzlich war ihm furchtbar kalt.

       Nur mühsam löste sich seine Starre. Er stakste Richtung Küche. Im Kühlschrank standen noch zehn Flaschen Bier, die würden fürs Erste reichen. Nachdem der Fernseher eingeschaltet war, öffnete Moritz den Schrank, in dem auch die Aufnahmen mit den Aufzeichnungen aller Ertappt-Folgen lagen. Mittlerweile hatten sich über 30 DVDs angesammelt. Er öffnete die erste Bierflasche, trank sie in einem Zug aus und rülpste laut. Vorsichtshalber noch einmal nachspülen. Auch die zweite Flasche lief auf Ex durch seine Kehle. Nun fühlte er sich kräftig genug, die erste Scheibe in den Rekorder zu legen. Moritz setzte sich auf den Teppichboden dicht vor den Fernseher. Die allererste Sendung von vor über drei Jahren flimmerte im Schnellvorlauf über den Bildschirm. Erst als der Abspann erschien, verlangsamte er die Geschwindigkeit.

       Sein Name war nicht zu sehen. Das Merkwürdige war, dass überhaupt kein Name hinter dem Wort Kamera stand. Nicht mal der von Pascal. Die Zeile blieb einfach leer.

       Es war nicht zu glauben. Pascal war erst vor zwei Jahren zum Team gestoßen. Insofern konnte Pascals Name dort auch nicht erscheinen. Aber wo, verflucht, war sein Name geblieben? Der konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Er war damals so stolz gewesen, den Job bekommen zu haben. Allen seinen Freunden hatte er diese erste Sendung vorgespielt, natürlich samt dem Abspann inklusiv seines Namens. Daran erinnerte er sich noch, als wäre es gestern gewesen.

       Zitternd holte er die nächste Folge aus dem Schrank. Auch hier fehlte ein Eintrag im Abspann. Ebenso bei den sechs folgenden Sendungen. Von da an erschien durchgehend Pascals Namen im Schnelldurchlauf. Klar, seit dieser Zeit gehörte Pascal ja auch zum Team.

       »Aber nur als Ersatzkameramann, verdammt«, knurrte Moritz und langte hinter sich auf den Tisch. Wie gut sich die geschwungene, kleine Bierflasche in seiner Hand anfühlte. Als die letzte DVD aus dem Rekorder sprang, war sein Biervorrat längst ausgetrunken. Nachdenklich schaute er auf den Turm, den er mit den Hüllen gebaut hatte. Mit einer schnellen Bewegung versuchte er die unterste Hülle herauszuziehen, aber es gelang ihm nicht. Polternd fiel der Turm in sich zusammen. Warum sollte er diese verfluchten DVDs auch noch länger aufheben? Er kam ja sowieso nicht mehr darin vor. Als er aufstehen wollte, wurde ihm kurzzeitig schwarz vor Augen. Alles drehte sich. Es war, als würde seine Wohnung mitten in einem stürmischen Ozean treiben. In dem Regalfach oberhalb der Discs befand sich ein zerfledderter Ordner. Es war der einzige Ordner, den er besaß. Moritz stand zu seiner Unordnung. Es machte doch keinen Spaß, alle Dokumente fein säuberlich abzulegen. Wozu gab es Schubladen und Pappkartons? Trotzdem war es mitunter nervig, wie viel Zeit man damit vertrödelte, nach irgendwelchen wichtigen Unterlagen zu suchen. Seinen Arbeitsvertrag hatte er damals aber glücklicherweise ordentlich abgeheftet. Zu stolz war er auf dieses mehrseitige Papier gewesen. Jetzt zog er den Ordner heraus und legte ihn auf den Teppichboden. Mit zusammengekniffenen Lippen blickte er auf das Papier. Spielten ihm seine Augen einen Streich? Vielleicht hätte er die ersten Biere nicht in einem Zug trinken dürfen. Sein Name war aus dem Dokument verschwunden. Adresse und Postleitzahl stimmten noch. Nur in der


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