AUSRADIERT. Martin S. Burkhardt

AUSRADIERT - Martin S. Burkhardt


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      Innerhalb der nächsten zwei Stunden hatten sie die komplette Flasche ausgeleert.

       »Ich habe nicht vorgehabt, mich heute zu besaufen«, stellte Tobias lachend fest, als er die nächste Flasche Rum auf den Tisch stellte. Dann streifte sein Blick die Teekanne. »Der Tee ist noch halb voll. Wir müssen zukünftig etwas besser mischen.«

       Moritz nickte und schenkte sich einen weiteren Schluck Rum ein. Dann kam ein Spritzer Tee dazu. Er fing an, die Zeit hier bei Tobias zu genießen. Tobias stellte wenigstens keine Fragen. Das musste man ihm hoch anrechnen. Nach zwei weiteren Stunden hatten sie auch diese Flasche zu Zweidrittel geleert.

       »Ich glaube, jetzt is‘ ma genug«, lallte Tobias und versuchte, vom Stuhl aufzustehen. Erst beim dritten Versuch kam er auf die Beine. »Ich muss leider noch was erledigen«, sagte er wichtig.

       Moritz winkte ab. »Halb so schlimm. Ich muss sowieso los. Ist ja nicht weit.« Es kam ihm vor, als würde der Alkohol ungebremst in seinen Kopf strömen, sobald er stand. Einen Augenblick lang konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, aufrechten Ganges die Wohnung zu verlassen.

       Kein Problem. Notfalls würde er auf allen vieren zu seiner Wohnung kriechen. Außerdem konnte Tobias auch noch halbwegs geradestehen. Er würde sich von diesem Seidenhemdträger doch nicht unter den Tisch saufen lassen! Sein Nachbar war sogar erstaunlich schnell auf die Beine gekommen. Als würde Tobias‘ Körper jeden Tag mit einer beträchtlichen Mengen Alkohol in Kontakt kommen. Oder hatte er weniger intus? Aber das konnte nicht sein. Moritz hatte diese hinterhältige Rumflasche ja schließlich nicht ganz alleine derart reduziert. Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen, weil ihn das eigentümliche Gefühl überkam, das Mietshaus würde in einem riesigen, unterirdischen Krater verschwinden. Solche grausigen Dinge passierten. Als er nach einigen Sekunden jedoch noch immer festen Boden unter seinen Füßen spürte, tippelte er vorsichtig weiter. Tobias stand an einer frisch aufgebauten Regalwand und grinste ihn breit an.

       »Von hier kannste was sehen«, lallte er.

       »Was?«

       »Na komm.«

       Moritz wankte auf ihn zu, blieb vor dem Regal stehen und schaute auf eine Wand massiver Bücher. Gerne hätte er den einen oder anderen Titel gelesen, aber irgendwie waren die Buchrücken falsch gedruckt. Die Schrift war völlig unscharf.

       »Was ist jetzt?«, fragte er und schaute seinen Nachbarn an. Tobias zeigte aus dem Fenster.

       »Der Mond ist so schön«, seufzte er.

       »Du bist doch betrunken«, antwortete Moritz grinsend. »Das ist die Sonne.«

       Tobias ließ einen weiteren Klagelaut hören. Sein ausgestreckter Arm wanderte zum Regal. Er schwankte einen kleinen Schritt vor und hielt sich an einem der Regalholzböden fest. Dann schwankte er wieder zurück. Leider umklammerten seine Hände nach wie vor das Regalfach. Moritz hörte, wie einige der kleinen Bücher umfielen, als das Regal ebenfalls in Bewegung kam. Tobias schien es nicht in der Wand verdübelt zu haben.

       »Vorsicht«, rief Moritz. »Deine schönen Bücher …«

       Unmittelbar darauf streifte etwas seine Nase. Ein Schatten huschte durch sein Blickfeld. Dann gab es einen monströsen Krach. Es klang, als hätte jemand einen gewaltigen Schmiedehammer fallen gelassen. Ein Gefäß von der Größe zweier Kaffeekannen kullerte auf dem Boden entlang und blieb wenige Schritte vor dem Regal liegen. Moritz griff sich an die Nasenspitze und spürte eine kleine raue Stelle. Das Ding hatte ihn dort gestreift. Ein Wunder, dass nicht mehr passiert war.

       »Meine Fresse«, sagte er keuchend. »Wenn mir der Bottich auf den Kopf gefallen wäre.«

       »Das ist ne Vase«, stellte Tobias fest. »Hätte sie nicht nach da oben stellen sollen.«

       »Nee, hättest du nicht«, sagte Moritz und hob den Kopf. Auf der obersten Regalebene standen noch weitere dieser Dinger. Insgesamt vier Vasen. Zwei andere waren gefährlich weit nach vorne gerutscht. Als Moritz sich ausmalte, was hätte geschehen können, wenn diese beiden Geschosse auch noch nach unten geflogen wären, wurde er kurzzeitig wieder völlig nüchtern. Er betrachtete die Vase auf dem Fußboden. Sie wirkte sehr massiv. Jedenfalls sah es nicht so aus, als ob sie eher als ein Schädel kaputtgegangen wäre.

       Tobias schüttelte heftig den Kopf. »Tut mir echt leid, Mann«, sagte er aufgeregt.

       »Ist ja noch mal gut gegangen. Warum zum Henker bewahrst du die schweren Vasen da ganz oben auf? Das ist doch Müll. Allein schon der Statik wegen.«

       »War nur provisorisch. Morgen wollte ich sie nach ganz unten stellen.«

       Moritz schaute seinen neuen Nachbarn von der Seite an. Manchmal schien der Gute ein wenig umständlich zu sein. Na ja, vielleicht würde er ihm diese Eigenart noch austreiben. Als Tobias langsam in die Hocke ging und sich dabei beinahe wieder am Regal abstützte, während er in Zeitlupe nach der Vase langte, kam ihm Moritz zuvor. Er bückte sich und seine Hände umschlossen das dunkelblau glitzernde Ding. Zuerst dachte er, die Vase hätte sich in den Boden eingegraben. Sie war kaum zu bewegen.

       »Lass das, Moritz«, sagte Tobias energisch.

       »Nee, lass du«, antwortete Moritz und stellte sich breitbeiniger hin. Er merkte, wie die Trunkenheit ihn wieder mit voller Kraft gefangen nahm. Wie konnte eine Vase derart schwer sein? Wäre sie runder gewesen, hätte man damit auch kegeln können. Dieser Gedanke brachte ihn zum Grinsen. »Ich stell sie mal auf‘n Tisch«, sagte er.

       »Nee, Sofa bitte.«

       Moritz gehorchte.

       Als sie im Treppenhaus standen, verabschiedeten sie sich schulterklopfend voneinander. Moritz benötigte nur drei Versuche, mit seinem Schlüssel das Türschloss seiner Wohnungstür zu treffen. Er verzichtete darauf, die Schuhe auszuziehen und wankte geradewegs auf sein altes, aber im Grunde genommen doch um Längen gemütlicheres Sofa zu.

       »Von einem Sitzmöbel auf das andere«, rezitierte er laut, »und dazwischen fast erschlagen worden.«

       Sein Kopf fiel auf die Lehne. »Und davor fast gegrillt und aufgefressen worden.« Er schnappte nach Luft und schaute neben sich.

       »Aber hier ist es besser«, erklärte er dem Telefon auf dem Boden. Dann fielen ihm die Augen zu. Unfassbar, wie müde er auf einmal war.

      Kapitel 7

      Lange hatte er nicht geschlafen. Dieser schreckliche Tag schien einfach kein Ende zu nehmen. Als er aufwachte und vorsichtig die Augen aufschlug, war es draußen immerhin schon dunkel geworden. Die Lichter zweier Straßenlaternen warfen bizarre Schatten auf den Wohnzimmerteppich. Es widerstrebte ihm, aufzustehen. Wahrscheinlich würde sein Kopf höllische Schmerzen verursachen.

       Aber dieser Kelch schien noch einmal an ihm vorbeigegangen zu sein. Bäume konnte er ausreißen! Es war alles in Ordnung. Ob sein Magen Probleme damit hätte, wenn auf den Rum noch Bier und Erdnussflips folgen würden? Bestimmt nicht! Moritz schlürfte in die Küche und füllte eine Schale. Auf dem Rückweg wären ihm die Flips fast aus der Hand gerutscht. Jetzt hieß es Fernseher einschalten und überlegen, ob der Sessel ausnahmsweise schon in Stellung geschoben werden sollte, auch wenn es noch nicht Abend war. Später Nachmittag durfte es wohl schon sein. Dennoch fühlte sich das auf schwer zu beschreibende Weise nicht richtig an. Während er sich zurück auf sein Sofa lümmelte, zappte er in schneller Reihenfolge durch die Programme. Die Vorabendserien waren die Hölle. Wie konnte man sich so etwas nur antun? Als ob das Leben so dramatisch wäre, wie es einem diese ganzen Serien vorgaukelten. Er lachte heiser. Andererseits, sein Leben war momentan sogar noch dramatischer - er war gerade dabei, den Verstand zu verlieren. Unbehaglich rutschte er auf dem abgewetzten Stoff hin und her. Was hatte Amys Reaktion nur zu bedeuten? Wie sehr er sich jetzt nach einer Berührung von ihr sehnte, nach dem Geruch ihrer Haut oder ihrer Haare! Ein Berg Erdnussflips wanderte in seinen Mund, zu viele, wie er kurz darauf feststellte. Er verschluckte sich und begann zu husten. Krümel des Gebäcks flogen aus seinem Rachen und landeten auf dem Boden. Und natürlich auf dem Sofa. Wie gut, dass es nicht weiß war. Die größeren Brösel wischte er mit der Hand weg. So sehr er auch suchte, ihm fiel einfach keine befriedigende Antwort auf die Frage ein, warum Amy ihm das antat. Ihre Beziehung war doch bisher außerordentlich gut gelaufen. Selbst wenn


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