AUSRADIERT. Martin S. Burkhardt

AUSRADIERT - Martin S. Burkhardt


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worden wäre. Als er den Ordner wieder zuklappte, fühlte er sich wie kurz vor einem Kreislaufkollaps. Inzwischen zitterten nicht nur seine Hände, sondern sein ganzer Körper. Kam das vom Alkohol oder der drückenden Angst, die ihn übermannte?

      Kapitel 8

      Die gesamte Nacht hatte Moritz auf dem Sofa verbracht. Ihm war speiübel, als er gegen Mittag mit dröhnenden Kopfschmerzen erwachte. Blinzelnd starrte er an die trostlose, weiße Decke. Ihm war kalt und er wagte kaum, sich zu bewegen. Er hätte gestern Abend doch die Finger von der Kornflasche lassen sollen. Quälend langsam erhob er sich vom Sofa. Um ihn herum drehte sich nicht nur alles, sämtliche seiner Knochen fühlten sich zu allem Überfluss auch noch so an, als wären sie über Nacht mehrmals verstaucht und verrenkt worden. Dieses verdammte Sofa war nicht zum Schlafen konstruiert. Ihm hätte klar sein müssen, dass er wie gerädert aufwachen würde. In der Küche öffnete Moritz den rot gestrichenen Vorratsschrank, griff nach einer Packung Butterkekse und nahm schnaufend auf dem Hocker platz. Die Kekspackung war noch verschlossen. Es kostete ihm einige Mühe, die Plastikhülle und anschließend die Pappfolie aufzureißen. Gefühlte Stunden später lagen die Backwerke endlich frei zugänglich vor ihm. Genau das richtige Katerfrühstück! Während er den ersten Butterkeks in der Mitte durchbrach und eine Hälfte vorsichtig im Mund verschwinden ließ, fiel sein Blick auf das Foto am Kühlschrank. Sie sahen beide so furchtbar glücklich auf dem Bild aus. Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an den Geruch ihres Körpers, als er Amy dort am Strand den sanften Kuss gegeben hatte …

       Ihre Haut war durch den ständigen Wind etwas trocken geworden und fühlte sich ein wenig rau an. Trotzdem duftete sie betörend nach einer Mischung aus ihrem Lieblingsparfüm und frischer Seeluft …

       Er brach den nächsten Keks entzwei und lächelte vor sich hin. Was würde er dafür geben, mit seinem Mund noch einmal so nah an ihr Gesicht zu kommen, wie damals. Plötzlich spannten sich seine Schultern und sein Sitz wurde kerzengerade. Ihm kam eine hervorragende Idee. Amy hatte den heutigen Tag noch frei. Das war schon lange so geplant gewesen. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, den ganzen Tag gemeinsam zu verbringen. Sie wollten relaxen und Sachen anstellen, die man eben so anstellt, wenn man sich eine Weile nicht gesehen hat. Wie konnte die Welt nur so aus den Fugen geraten? Er schob sich die letzten Kekse in den Mund und stand auf. Trotz allem würde Amy heute noch einmal Besuch von ihm bekommen. Diesmal würde er sich nicht so einfach abspeisen lassen. Sein Plan war, Amy mit Erinnerungsstücken aus ihrer gemeinsamen Zeit zu konfrontieren. Wie sie darauf wohl reagieren würde? Jedenfalls konnte sie dann nicht mehr so tun, als würde sie ihn kaum kennen.

       Voller Elan verließ er die Küche. Sein Kopf hämmerte, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Amy war es wert, dass man um sie kämpfte. Und er war bereit, den Kampf heute noch einmal aufzunehmen. Im Schlafzimmer fiel sein Blick einen Augenblick lang sehnsüchtig auf das unberührte Bett. Darunter lag eine blaue Sporttasche. Er öffnete sie und schüttelte den Inhalt über dem Bett aus. Eine halb volle Flasche Shampoo, zwei Handtücher und eine Packung Papiertaschentücher landeten auf der Matratze. Aus dem Wohnzimmerschrank legte er die Fotoalben der letzten drei Jahre in die Tasche. Dann fiel ihm noch etwas ein. Er hatte zu seinem letzten Geburtstag von Amy etwas ganz Besonderes bekommen. Sie hatte ihm eine Collage gebastelt. Auf einer dicken, roten Pappe klebten Fotos, von ihr mit lustigen Sprüchen kommentiert. Daneben hatte sie jede Menge andere persönliche Sachen beigefügt. Da waren die Eintrittskarten ihres ersten gemeinsamen Musicalbesuches, die Flugtickets ihres ersten gemeinsamen Urlaubes und diverse Bahnfahrkarten. Auch einen ihrer Slips hatte sie an die Collage geheftet. Ein edler Holzrahmen umfasste das Kunstwerk. Er stand einen Augenblick vor dem Geschenk, das im Schlafzimmer, direkt über dem Kopfende seines Bettes hing, und lächelte vor sich hin. Amy hatte sich unglaublich viel Mühe gegeben. Daran musste sie sich doch einfach noch erinnern. Vorsichtig wollte er den Rahmen von der Wand nehmen, aber irgendetwas hakte. Er rüttelte daran und zog ihn fest zu sich, jedoch ohne Erfolg. Es war, als wäre der Rahmen nicht nur mit einer einzelnen Schraube, sondern mit einer ganzen Anzahl davon an der Wand befestigt worden. Schulterzuckend ließ Moritz von der Collage ab. Er wollte das Geschenk um keinen Preis der Welt zerstören. Aber das machte nichts. Die Fotoalben sollten als Beweis vollkommen ausreichen.

      ***

      Diesmal musste er mehrmals klingeln, bevor die Tür geöffnet wurde. Amy trug das T-Shirt, welches sie zusammen in einem Shop auf Fuerteventura gekauft hatten. Es war strahlend gelb und besaß einen weiten und tiefen Ausschnitt. Moritz erinnerte sich, dass Amy es zunächst überhaupt nicht hatte haben wollen. Moritz hatte alle seine Überredungskünste aufbieten müssen, um sie doch noch zum Kauf zu bewegen. Und jetzt stand sie in diesem Wahnsinnsteil an der Tür und schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

       »Ja?«, fragte sie kurz aber freundlich.

       Einen Moment war ihm nicht klar, was er sagen sollte. Er schnappte einmal nach Luft und atmete hektisch wieder aus.

       »Ich wollte mich für gestern entschuldigen«, stellte er dann mit brüchiger Stimme fest.

       Amy kräuselte die Stirn.

       »Gestern? Was soll denn gestern gewesen sein?«, fragte sie. Wieder hatte er das Gefühl, sein Herz würde einen Schlag lang Pause machen. Sie erinnert sich nicht mehr!, schoss es ihm durch den Kopf.

       »Wir hatten Streit«, sagte er gedehnt.

       »Wir beide?« Jetzt grinste sie. »Aber ich kenne dich doch überhaupt nicht. Und mit fremden Personen streite ich mich ziemlich selten.«

       Moritz verzog den Mund. Am liebsten wäre er jetzt mit wehenden Fahnen geflüchtet. Aber es war wichtig, das jetzt durchzuziehen. Er musste Amy mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit konfrontieren.

       »Aber wir kennen uns gut«, widersprach er, öffnete dabei seine Sporttasche und holte eines der Fotoalben heraus. »Schau, lauter Bilder von uns beiden.«

       Amy nahm das Album lächelnd entgegen und schlug es auf. Als sie auf die ersten Bilder schaute, erstarrte ihr Grinsen jedoch augenblicklich. Sie blätterte hastig vor und zurück.

       »Das ist doch nicht zu fassen«, sagte sie dann ungläubig. »Du hast mir nachspioniert. Das sind ja alles Bilder von mir.«

       »Von uns«, verbesserte Moritz.

       »Ach ja, du Komiker?« Sie hielt ihm das aufgeschlagene Album vor die Nase und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Auf keinem der Fotos konnte man ihn sehen.

      Kapitel 9

      Amy hatte ihm das Album vor die Füße gepfeffert und die Wohnungstür zugeschlagen. Daraufhin war er dann ein wenig lauter geworden. Mit den Fäusten hatte er das Holz der Tür bearbeitet und dabei gerufen, dass er ihren ganzen Körper kennen würde. Als Beispiel hatte er ihren Intimschmuck genannt, den Amy am Anfang ihrer Beziehung noch getragen hatte. Moritz konnte sich noch gut an die silbernen Ringe erinnern, die Amy stets gedrückt hatten, wenn sie sich auf einen Stuhl setzte. Auch ihren Leberfleck unterhalb der rechten Brust hatte er erwähnt. Etwas später kam die Polizei. Moritz konnte zunächst nicht glauben, dass Amy dahinter steckte, aber der Beamte, der ihm in einem kleinen Büro gegenübersaß, machte unmissverständlich deutlich, dass Amy Anzeige erstattet hatte und deswegen nun seine Personalien aufgenommen werden müssten.

       Und damit fing der Ärger erst richtig an.

      ***

      Unruhig schaute Moritz um sich.

       Die Polizistin, die ihn in den Keller begleitet hatte, sagte, dass es hier unten lediglich Ausnüchterungszellen gäbe. Daher die offene Front mit den dicken Eisengittern, ganz so, wie man sich eine Gefängniszelle in einem klassischen Western vorstellte. Moritz ging auf die Gitterstäbe zu und umklammerte das kalte Eisen.

       Er konnte es noch immer nicht fassen.

       Nachdem er seinen Ausweis abgegeben hatte, verschwand der Beamte in einem Nebenraum, nur um einige Minuten später mit Verstärkung wieder zurückzukommen. Die Polizisten erklärten ihm, dass sein Ausweis im Grunde genommen gar nicht existieren dürfte. Jeder Ausweis besaß eine eindeutige Kennziffer, aber Moritzˈ Nummer war in keinem System der Welt verzeichnet. Kurzerhand sperrte man ihn ein.

       Kopfschüttelnd legte er sich wieder auf die Pritsche. Die Beamten wollten zurückkommen, sobald sich die Sache


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