AUSRADIERT. Martin S. Burkhardt

AUSRADIERT - Martin S. Burkhardt


Скачать книгу
U-Bahn erreichen, sich so schnell wie möglich in seiner Wohnung verbarrikadieren und diesen Scheißtag einfach draußen lassen. Er hastete noch ein wenig schneller über den Platz. Hatte man ihn tatsächlich klammheimlich gefeuert? Vielleicht wollte Sascha ihn schon seit Längerem loswerden? Vielleicht wurde Pascal bereits kontinuierlich als sein Nachfolger aufgebaut? Das würde auch erklären, warum sein eigener Name im Abspann nicht mehr auftauchte, wohl aber der von Pascal. Ob es daran lag, dass er nicht pünktlich sein konnte? Wann hatte er zuletzt rechtzeitig einer Redaktionssitzung beigewohnt? Vielleicht hätten auch die Mittagspausen mit Amy nicht immer so ausufern dürfen. Trotzdem wäre es nur fair gewesen, ihn vorher wenigstens einmal gewarnt zu haben. Fast wäre er mit einer Gruppe merkwürdig sprechender Menschen zusammengestoßen, die mit ihren Fotoapparaten wild auf das Rathaus einschossen. Schnaufend wich er aus. Irgendetwas stimmte nicht, diese zusammengebastelten Erklärungsversuche konnten ihn nicht beruhigen. Sascha war ein umgänglicher Mensch, der das Gespräch mit ihm gesucht hätte. Ganz sicher. Außerdem war da immer noch der Abspannfehler der anderen Sendung. Der Bericht über die Käfighühner war vor etwa einem Jahr gelaufen. Wenig wahrscheinlich, dass Sascha ihn schon zu diesem frühen Zeitpunkt aus der Firma hatte ekeln wollen. Außerdem hätte es Tratsch gegeben. Amy und Jochen hätten ihm davon berichtet. Moritz ballte die Fäuste und trat gegen eine achtlos weggeworfene Butterkeksschachtel auf dem Boden. Sein Kopf begann zu brummen. Die Unterführung zur U-Bahn lag nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Jetzt konnte er es sich erlauben, wieder etwas langsamer zu gehen. Nicht, dass sein Körper noch einen Hitzeschlag bekam. Obwohl, so richtig heiß war ihm gar nicht. Sein Blick wanderte in den erneut wolkenlosen Himmel. Erst dann fiel ihm auf, dass er direkt in die Sonne hineinschauen konnte. Das ging sonst doch nur, wenn sich Wolken- oder Nebelschleier davor setzten und auf diese Weise die Lichtkraft reduzierten. Aber da war nichts, was die Sonne verdecken konnte. Irritiert senkte Moritz den Kopf und betrachtete seinen Schatten auf den großen, quadratischen Steinplatten, der sich nur sehr blass abzeichnete. Eigentlich war seine Silhouette kaum mehr als eine hellgraue Trübung, so wie ein Milchkaffee, bei dem man es mit der Milch doch etwas zu gut gemeint hatte.

       Es war keine Zeit mehr, großartig über dieses Phänomen nachzudenken. Die Unterführung tauchte vor ihm auf. Die Stufen in den U-Bahn-Schacht schlenderte er fast in Zeitlupe hinunter. Ein warmer Wind wehte ihm aus dem Schacht entgegen. Auf der untersten Stufe saß ein Bettler, der die Beine angezogen hatte und sich gegen das Mauerwerk lehnte. Ebenfalls wie in Zeitlupe hob der Typ die grüne Flasche ohne Etikett an den Mund und trank einen ausgiebigen Schluck. Moritz runzelte die Stirn. Der Oberlippenbart des Mannes war sauber gestutzt. Als Moritz an ihm vorbeiging, schaute der Bettler hoch. Plötzlich riss er die Augen weit auf, verschluckte sich und ein Teil des Getränkes landete auf seiner einstmals bestimmt sehr teuren und vornehmen Tweedhose. Was für ein seltsamer Kauz! Der Geruch von Rotwein wehte Moritz in die Nase. Eigentlich hätte er etwas Härteres erwartet. Der Bettler zitterte und schaute ihn mit einem so verwunderten Gesichtsausdruck an, als würde der Heilige Geist persönlich vor ihm stehen. Moritz blickte schnell zu Boden. Normalerweise hegte er keinen Unmut gegenüber Obdachlosen. Meistens warf er ihnen sein Kleingeld zu. Diesmal allerdings war er dafür nicht in der Stimmung. Noch immer schüttelte sich der Bettler, als herrschten in der Unterführung eisige Temperaturen. Dann hob der Mann den Arm und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn.

       »Du auch!«, rief er aufgewühlt. »Das gibt es nicht. Dich hat’s auch erwischt.«

       Einen Moment hatte Moritz das Gefühl, als ob die Welt um ihn herum einfach aufhörte zu existieren. Voller Abscheu und gleichzeitig hoch fasziniert betrachtete er den Zeigefinger des Stadtstreichers. Der Finger schien ihn magisch anzuziehen. Moritz konnte ihn so unglaublich deutlich sehen, viel klarer als alles andere in dieser Unterführung. Dann war das Gefühl ebenso schnell vorbei, wie es gekommen war. Unsicher riss er sich von dem Anblick des Fremden los und beeilte sich, an dem Mann vorbeizukommen. Eine Gruppe laut quasselnder Kids stürmte aus dem Schacht und im Hintergrund donnerte bereits der einfahrende Zug. Heute schien die ganze Welt verrückt zu spielen.

      ***

      Moritz bog in die Straße seiner Wohnung ein und ging an einem türkischen Händler vorbei, der Unmengen von Obstkisten am Rand des Bürgersteigs deponiert hatte. Es roch nach reifen Früchten. Kurz darauf fiel sein Blick auf den Möbelwagen, der sich vor der Eingangstür seines Wohnhauses breitgemacht hatte. Zwei Männer in schweren Arbeitshosen wuchteten gerade eine Waschmaschine an den Rand der Laderampe. Ein dritter Mann gab vom Hauseingang aus Anweisungen und fuchtelte dabei aufgeregt mit den Händen in der Luft herum. Moritz schätzte, dass der Kerl in etwa sein Alter hatte. Er trug ein seidenartiges Hemd, dessen obere drei Knöpfe geöffnet waren. Auf seiner glatt rasierten Hühnerbrust glänzte der Schweiß und ein fingerbreiter Kinnbart zierte sein spitzes Gesicht. Als Moritz neben ihn trat, lachte der Mann ihn offen und freundlich an.

       »Ich hoffe, du kommst noch durch die Tür. Der Möbelwagen steht ziemlich dicht am Eingang.«

       Moritz nickte. »Kein Problem.«

       Er schaute auf die Arbeiter, die mit der Laderampe heruntergefahren waren und die Waschmaschine auf den Bürgersteig schoben.

       »Ziehst du hier ein?«

       »Ja, in die Wohnung im zweiten Stock. Rechts.«

       »Dann kann ich dir zukünftig auf dem Kopf herumtrampeln. Ich wohne direkt über dir.« Moritz streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich vor.

       »Ich bin der Tobias«, sagte der Kinnbart und schaute wieder angespannt auf die Ladefläche des Transporters. Einer der Möbelpacker hatte mehrere großblättrige Grünpflanzen an den Rand der Rampe gestellt. Tobias schnalzte mit der Zunge. »Vorsichtig. Die fallen doch um.«

       Er griff nach den Übertöpfen und stellte die Gewächse nacheinander an den Rand der Hauswand.

       »Die brauchen dringend Wasser«, sagte er kurz darauf besorgt und versuchte, alle Pflanzen auf einmal zu umklammern. Dabei rutschte ihm einer der Töpfe aus den Händen und fiel auf den Gehweg.

       »Meine Efeutute«, rief er panisch.

       Moritz lachte und klopfte ihm auf die Schulter.

       »Geh schon vor und kümmere dich um die anderen Pflanzen. Ich nehme mich des Krauts hier an.«

       »Das ist lieb von dir. Du kennst ja den Weg.«

       Während Tobias im Hauseingang verschwand, füllte Moritz die ausgekippte Erde zurück in den Plastiktopf. Tobias hatte anscheinend einen ausgeprägten grünen Daumen. Der Efeu sah kräftig grün aus und bildete Unmengen neuer Triebe. Moritz dachte an sein kümmerliches Zyperngras vor dem Badezimmerfenster, das alles andere als gesund aussah, obwohl es regelmäßig gegossen wurde und auch die Sonne den halben Tag lang direkt in das Fenster schien. Die Tür zu Tobias’ Wohnung stand weit offen. Eben betraten die Möbelpacker mit der Waschmaschine den Wohnungsflur.

       »Der Efeu ist gerettet«, rief Moritz, während er durch den Flur ging.

       Tobias saß auf dem Fußboden seiner neuen Wohnung und begutachtete eine seiner Pflanzen. Neben ihm stand eine grüne Plastikgießkanne.

       »Eigentlich sollten Zimmerpflanzen ausschließlich Regenwasser bekommen«, sagte er, als Moritz den Raum betrat. »Aber noch habe ich natürlich nichts gesammelt. Da muss es Leitungswasser auch tun.«

       Moritz nickte und stellte den Efeu zu den anderen Gewächsen. Wie wollte Tobias hier Regenwasser sammeln? Die Wohnungen in diesem Haus besaßen keine Balkone. Oder wollte er Flaschen mit großen Trichtern im Innenhof aufstellen? Das würde bestimmt lustig aussehen. Dann hätte er aber seinen Ruf im Hause weg. Tobias, der Pflanzenversteher.

       »Was lächelst du so?« Tobias hatte sich umgedreht und schaute ihn mit großen Augen an. »Ach nichts. Der ganze Tag heute war bisher ziemlich scheiße. Da bin ich froh für jede Ablenkung.« Tobias nickte. »Ich habe noch mehr Grünpflanzen im Lkw, die auch alle dringend Wasser bräuchten«, sagte er augenzwinkernd. »Kein Problem. Ich helfe dir.« Moritz war froh, etwas tun zu können. Vielleicht lenkte ihn das ein wenig ab. Es war frustrierend und beunruhigend, dauernd über die Geschehnisse in seiner Firma nachzudenken. Und so schleppte er in der nächsten Stunde nicht nur Dutzende weiterer Grünpflanzen in Tobias’ neue Wohnung, sondern auch kleine Bänke und Tische aus Holz, auf denen das Grünzeug


Скачать книгу