Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte. Dornblüth Otto

Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte - Dornblüth Otto


Скачать книгу
greifbaren Leiden unterscheiden.

      Nach den gehirnphysiologischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die geistigen Vorgänge besonders an Teile und Veränderungen der Großhirnrinde gebunden sind. Insbesondere ist anzunehmen, daß die Hinterhauptwindungen der Gesichtswahrnehmung, die Schläfenwindungen der Gehörswahrnehmung, die Zentralwindungen und die Scheitellappen den Bewegungsvorstellungen (Erinnerungsbildern der Bewegungs-, Haut- und Muskelgefühle und ihrer Lokalisation) als Sitz dienen. Geschmack und Geruch, die für die geistigen Vorgänge von geringerer Bedeutung sind, verknüpfen sich mit Rindenfeldern der Gehirnbasis. Unzählige Assoziationsfasern verknüpfen die verschiedenen Gebiete und Schichten zu einem gemeinsamen Wirken als Organ der geistigen Vorgänge.

      Von großer Wichtigkeit für die Theorie der normalen und der krankhaften Geistestätigkeiten ist jedenfalls das Sprachzentrum und seine Beschaffenheit, da sicher die meisten Menschen in Sprachvorstellungen denken. Hier gilt aber ganz besonders, was für die gesamte materielle Erklärung des Denkens und seiner Störungen nie außer acht gelassen werden sollte, daß es sich dabei immer nur um Theorien handelt, die bei aller Wahrscheinlichkeit und bei allem wissenschaftlichen Werte doch keine wirkliche Erklärung für das Beobachtete geben können. Die Psychiatrie als eine Wissenschaft bedarf dieser Aufstellungen und wird dadurch gefördert, die fortschreitende Erkenntnis der geistig kranken Menschen und ihrer Behandlung muß auch unabhängig davon durch klinische Beobachtung und durch reine Erfahrung herausgebildet werden.

      Eine scharfe Grenze zwischen Geistesgesundheit und Geisteskrankheit gibt es ebensowenig wie zwischen den entsprechenden Körperzuständen. Wie niemals zwei Menschen körperlich völlig gleich sind, und wie kein Maß geschaffen werden kann, um jemand als körperlich normal zu erweisen, so sind auch bei möglichst gleicher geistiger Anlage und Ausbildung die größten Verschiedenheiten möglich. Was bei geistig Hochgebildeten als grobe Abweichung vom Normalen und als klaffende Lücke betrachtet werden muß, kann bei Ungebildeten als durchaus regelrecht erscheinen, und noch größer sind die Verschiedenheiten, wenn an Stelle des ruhigen Denkens die Affekte den Geist beherrschen. Man soll sich daher hüten, jede Abweichung von der bisherigen Erfahrung oder von dem Gewohnheitsbilde ohne weiteres als abnorm oder gar als krankhaft hinzustellen, auch wenn der erfahrene Beobachter geistiger Persönlichkeiten Anklänge an Krankhaftes wahrnimmt. Nur durch Mißbrauch solcher Beobachtungen wird man z. B. das Genie wegen seiner mannigfachen Eigentümlichkeiten dem Irren an die Seite stellen.

      

      In der Praxis ist eine willkürliche Trennung zwischen gesund und krank nicht zu entbehren; sie ist Sache der Erfahrung und des Taktes, also nicht durch bestimmte Regeln zu erlernen und daher dem Unkundigen nicht jedesmal als berechtigt nachzuweisen. Zu große Bestimmtheit in derartigen subjektiven Ansichten hat manchem Irrenarzte den nicht ganz irrigen Vorwurf zugezogen, sein Gebiet unrechtmäßig ausdehnen zu wollen. Mit gutem Grunde stellt daher die neuere Psychiatrie ein eigenes Gebiet der »Grenzzustände« auf.

       Inhaltsverzeichnis

      Von den zuletzt genannten Irrenärzten ragt Griesinger am meisten in unsere Zeit hinein. Seine »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« (4. Aufl. 1876) bildet die Grundlage der heutigen Lehren. Die wichtigsten neueren Lehrbücher sind:

      v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 7. Aufl. 1903. Kraepelin, Psychiatrie. 7. Aufl. 1903. 2 Bände. Schüle, Klinische Psychiatrie. 3. Aufl. 1886. Ziehen, Psychiatrie. 2. Aufl. 1902. Wernicke, Grundriß der Psychiatrie. 1894–96. Weygandt, Atlas und Grundriß der Psychiatrie. 1902. Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 1901. Cramer, Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 3. Aufl. 1903. Vgl. ferner Störring, Vorlesungen über Psychopathologie. 1901.

       Inhaltsverzeichnis

      Bei den Geistesstörungen tritt es für den Arzt noch deutlicher als bei körperlichen Leiden hervor, daß er nicht mit der Krankheit, sondern mit dem kranken Menschen zu tun hat. Gerade dadurch ist die Psychiatrie für jeden Arzt unentbehrlich, daß sie ihn mehr als jedes andere Fach der Medizin darauf hinweist, ja ihn geradezu durch Zwang dazu bringt, in dem Kranken den ganzen Menschen zu studieren und bei der Behandlung jeden Augenblick sein gesamtes leibliches und geistiges Befinden zu berücksichtigen.

      Auch bei der Erforschung der Ursachen des Irreseins ist diese Wahrheit unverkennbar. Wie alle Krankheiten, so stellen auch die des Geistes das Ergebnis äußerer Schädlichkeiten und innerer Anlage dar, wobei je nach dem Einzelfall der eine oder der andere Faktor überwiegt. Für die Geisteskrankheiten hat nun die Erfahrung die größere Wichtigkeit der inneren Ursachen, also der ganzen Anlage des betreffenden Menschen, erwiesen. Man stellt sie als persönliche und als allgemeine Veranlagung (Prädisposition) den äußeren Ursachen gegenüber, die ihrerseits geistig oder körperlich einwirken können.


Скачать книгу