Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte. Dornblüth Otto

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normalen Verhältnissen ruft nur die spezifische Reizung des Sinnesorgans und höchstens ausnahmsweise die mechanische, elektrische u. s. w. Reizung des Sinnesnerven im Sinneszentrum eine Empfindung und im Bewußtsein eine Wahrnehmung hervor. Der Schein einer im Gesichtskreis befindlichen Kerze wird im Sehzentrum gesehen und vom Bewußtsein wahrgenommen, die elektrische Reizung des Sehnerven oder ein Druck auf den Augapfel rufen ebenso eine Lichtempfindung hervor. Nach einer älteren Anschauung haben die Empfindungen in den subkortikalen Zentren, die Wahrnehmungen und die Erinnerungsbilder in der Rinde ihren Ort; nach der gegenwärtigen Anschauung werden alle Empfindungen und Erinnerungsbilder in der Rinde selbst niedergelegt und aufbewahrt, man nimmt aber doch eine örtliche Trennung für sie an, wahrscheinlich nach den verschiedenen Schichten der Rinde. Wernicke unterscheidet die Empfindung als kortikal, die bewußte Wahrnehmung als transkortikal. Wie man sich aber diese Lokalisation vorstellen mag, jedenfalls ist eine Trennung zwischen dem Sinneseindruck und seinem Erinnerungsbilde, der latenten Sinnesvorstellung, notwendig. Auch unter den krankhaften Verhältnissen, die hier in Frage kommen, wird diese Unterscheidung deutlich. Es kommen nämlich Halluzinationen, d. h. Sinneswahrnehmungen ohne äußeren Reiz, unter Umständen auch nach völliger Zerstörung der peripheren Organe, bei völliger Erblindung, Taubheit u. s. w., in dreierlei Art vor. Zunächst in Form einer krankhaften Erregung des Empfindungszentrums in der Rinde: Perzeptionshalluzination, wobei auf die Wahrscheinlichkeit dieses Sitzes hinweisen: die Beschränkung auf ein Sinnesgebiet, die Unabhängigkeit von den gegenwärtigen Vorstellungen des Betreffenden, dem sie sofort als etwas Fremdes, Abnormes auffallen; häufig beschränken sie sich auf ziemlich elementare Wahrnehmungen. Beim Geistesgesunden finden sie sich zuweilen in dem Übergangszustand zwischen Wachen und Schlaf als sogenannte hypnagogische Halluzinationen; in manchen Fällen werden sie durch Reizzustände im peripheren Sinnesorgan: Glaskörpertrübungen, Hyperämie der Netzhaut, chronische Entzündungen des Mittelohrs, experimentell durch Druck auf den Augapfel (z. B. bei Deliranten) usw. hervorgerufen und treten dann zuweilen einseitig auf. Die kortikal bedingten pflegen sich aber nicht wie die peripher erzeugten auf subjektive Lichterscheinungen und Geräusche zu beschränken, sondern sich als Bilder, Worte u. dgl. zu äußern. Dabei haben sie genau dieselbe Deutlichkeit wie die wirklichen Sinneswahrnehmungen und können daher nur durch Beobachtung und logische Schlüsse als äußerlich unbegründet erkannt werden.

      Die zweite Art der Halluzinationen stellt Erinnerungsbilder von besonderer Lebhaftigkeit dar, die wahrscheinlich durch eine zentrifugale Reizung, ein Mitschwingen des kortikalen Empfindungszentrums bewirkt wird. Die Halluzination wird hier also auf psychologischem Wege vermittelt, sie ist nicht mehr rein physiologisch-mechanisch begründet. Deshalb entspricht sie weit mehr als die Perzeptionshalluzination dem augenblicklichen Denkinhalt. Jeder Affekt begünstigt solche lebhaften Reproduktionen.

      Eine dritte Art, die nur uneigentlich dazu gerechnet wird, stellt in Wahrheit keine Sinnestäuschungen dar, sondern Vorstellungen, die sich jedoch durch ihre große Lebhaftigkeit von den gewöhnlichen Vorstellungen für das Gefühl der Betreffenden deutlich unterscheiden. Man bezeichnet diese (transkortikalen) Erscheinungen als psychische oder Apperzeptions- oder auch als Pseudohalluzinationen. Sie pflegen sich ganz nach dem Inhalte des Denkens zu richten und mehrere oder alle Sinnesgebiete gleichzeitig zu umfassen. Sie stehen der Art nach zwischen den eigentlichen Halluzinationen und den bloß reproduktiven Vorstellungen; sie haben die Deutlichkeit wirklicher Wahrnehmungen, werden aber von intelligenten Kranken deutlich davon unterschieden. Von den normalen Vorstellungen unterscheiden sie sich u. a. dadurch, daß sie ohne das Gefühl eigener innerer Tätigkeit und unabhängig vom Willen auftreten.

      Die Unterscheidung der drei Arten ist in Wirklichkeit nur unvollkommen möglich, ihre krankhafte Bedeutung wohl auch nicht wesentlich verschieden. Wenn bei den beiden ersten die sinnliche Deutlichkeit überwiegt und ihre kritische Scheidung von den gleichzeitigen wirklichen Eindrücken erschwert, also die Verfälschung des Urteils erleichtert, so hat bei den Pseudohalluzinationen die Übereinstimmung mit dem Denkinhalt dieselbe Wirkung. Gerade die Undeutlichkeit der Sinneseindrücke erhöht hier die Schiefheit der Wahrnehmung.

      Neben den Halluzinationen steht, zuerst durch Esquirol (vgl. S. 4) davon unterschieden, die Gruppe der Illusionen, wobei ein tatsächlicher Sinnesreiz verfälscht in das Bewußtsein tritt. Manchmal wird etwas gesehen, gehört usw., was nicht da ist, bei höheren Graden wird etwas, was da ist, nicht gesehen, und dazu etwas nicht Tatsächliches hinzu gesehen oder gehört. Illusionen kommen im Bereich des Gesunden überall da leicht vor, wo ein undeutlicher Sinneseindruck mit einem gewissen Affekt oder mit anderweitig begründeter ungenauer Beobachtung, z. B. bei Ermüdung, zusammentrifft. Vorzüglich dargestellt hat Goethe die Illusionen des Knaben im Erlkönig.

      Eine scharfe Scheidung zwischen Halluzinationen und Illusionen ist praktisch nicht durchführbar, beim Gehör und beim Gesichtsinn noch am ehesten; beim Geschmack-, Geruch-, Tastsinn und bei den Gemeingefühlen läßt sich nicht ohne weiteres erkennen, ob eine abnorme Empfindung, z. B. Kotgeschmack, halluziniert wird, oder ob er auf einen Mundkatarrh zurückzuführen ist und eine illusionäre Verkennung des bekannten pappigen Geschmacks vorliegt. Besonders schwer wird auch die Trennung von den Pseudohalluzinationen, die sich mit wahnhaften Auslegungen untrennbar verbinden.

      Halluzinationen kommen bei Geistesgesunden viel seltener vor als Illusionen, verhältnismäßig am häufigsten wohl in der zweiten Form, als Vorstellungsbilder von plastischer Lebhaftigkeit, wie sie namentlich von Künstlern auch willkürlich hervorgerufen werden können (optisch oder akustisch). Hierher dürfte Goethes bekannte Selbstvision im hechtgrauen Anzug auf dem Weg nach Sesenheim zu rechnen sein: »Ich sah, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg.« Dagegen dürfte Luthers Teufelsvision als Pseudohalluzination aus dem Kreise lebhafter Vorstellungen heraus in einem durch Askese und Arbeit überreizten Gehirn zu betrachten sein. Jedenfalls bleiben Halluzinationen und Illusionen bei Gesunden vereinzelt und ohne dauernde Herrschaft; bei geistig Abnormen dagegen gewinnen sie meist einen unwiderstehlichen Einfluß auf das ganze Denken. Dazu trägt viel bei, daß sie meist bei einem schon bestehenden krankhaften Zustande der Vorstellungen und ihrer Gefühlsbetonung auftreten, der die Kritik ähnlich beeinträchtigt, wie unter normalen Verhältnissen eine Erwartung oder eine Gemütsbewegung die ruhige Beobachtung stört. So treten z. B. leicht Gehörshalluzinationen auf, wenn ein Kranker ein paar Menschen miteinander sprechen sieht, ohne sie verstehen zu können. Bei vorhandener Erregung der Zentren, zumal bei Erwartungsspannung, kann jeder Sinneseindruck eine Halluzination bewirken. Die Disposition für Halluzinationen wird allgemein gesteigert durch Gemütsbewegungen, Anspannung der Aufmerksamkeit (beides zusammen z. B. in der Gefängnishaft), Erschöpfung, besondere Erregung der Zentren (z. B. Vergiftung mit Kokain, Atropin), im Fieber usw.

      Von den Sinnestäuschungen — so bezeichnet man Halluzinationen und Illusionen gemeinsam — sind die Gehörstäuschungen am häufigsten. Sie treten verhältnismäßig selten als elementare Täuschungen: Geräusche, Sausen, Klingen, Knall usw. auf, häufiger als komplexe Täuschungen, als »Stimmen«, wie sie von den Kranken sehr oft bezeichnet werden. Sie bestehen in einzelnen Worten, meist zunächst beleidigender oder aufregender Art, oder in ganzen Sätzen, zuweilen von verschiedenen Stimmen gesprochen, so daß der Kranke die Unterhaltung verschiedener Personen zu hören glaubt. Illusionen schließen sich in denselben Formen an die gewöhnlichen Geräusche des täglichen Lebens, an die Stimmen der Vögel und anderer Tiere. Die Stimmen sind bald laut, bald im gewöhnlichen Gesprächston, bald flüsternd, so daß ein Hinhorchen nötig wird. Bald scheinen sie unmittelbar vor dem Ohr (und zwar nur vor einem Ohr) zu entstehen, bald aus weiter Ferne, von Gott usw. zu kommen; durch Ausdeutung oder durch eigentümliche Nebenempfindungen werden sie in den Ofen, hinter das Schlüsselloch, unter den Fußboden, in den Leib oder in andere Teile des Kranken verlegt und in der verschiedensten Weise wahnhaft verwertet (vgl. unten). Die elementaren Täuschungen haben meist viel weniger Beziehung zum Vorstellungsinhalt als die komplexen.

      Gesichtstäuschungen (Visionen) sind im ganzen seltener. Auch hier kommen alle Arten vor, von den einfachsten Funken-


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