Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte. Dornblüth Otto

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gerade bei gespanntem Hinsehen oder Horchen auftreten, andere Male nur dann, wenn die Augen verschlossen oder die Ohren verstopft werden. Dem Inhalt nach sind sie oft erschreckend, nicht selten aber auch beglückend, zumal in religiösem Sinne. Die Illusionen des Gesichtsinns äußern sich häufig in Personenverwechslung.

      Geschmackstäuschungen kommen gleich den physiologischen Empfindungen dieses Sinnes am häufigsten mit Geruchstäuschungen vereinigt vor, während letztere mindestens ebenso oft allein auftreten. Alle Arten der normalerweise durch äußere Reize bewirkten Empfindungen werden als Halluzinationen oder als Illusionen beobachtet, meist mit unangenehmem Charakter.

      Die Täuschungen im Gebiet des Gemeingefühls bieten, ebenfalls die größte Mannigfaltigkeit. Wie schon erwähnt, sind Halluzinationen und Illusionen hier besonders schwer zu trennen. Die Kranken fühlen Berührungen ihrer Haut in sehr verschiedener Weise, z. B. Streichen mit einer lebenden oder einer Totenhand, Zwicken, Stechen, Kriechen von unsichtbaren Tieren; es wird ihnen in den Mund oder ins Ohr gespieen, Sand in die Augen gestreut, Schlangen kriechen ihnen im Schlund oder im Leibe herum, die Eingeweide werden zerschnitten, der Same wird ihnen abgezapft, der Beischlaf mit ihnen vollzogen, unter Wollust- oder Schmerzgefühl, die Körperöffnungen oder einzelne Körperteile sind verschwunden; sie fühlen sich mit elektrischen Strömen durchzogen oder anderswie gepeinigt. Höchst eigentümlich sind die sogenannten Reflexhalluzinationen, Kahlbaum, wobei z. B. durch eine normale Gesichtswahrnehmung halluzinatorische Mitempfindungen in einem andern Sinnesgebiet auftreten; die Kranken fühlen sich mit der Suppe »ausgefüllt«, von der Dampfmaschine »zerdreht« usw. Beachtenswert ist auch das sogenannte Gedankenlautwerden, wobei dem Kranken alles, was er denkt oder liest oder sagen will, gleichzeitig oder, wie Viele angeben, schon vorher vorgesprochen oder auch nachgesprochen wird; die Erscheinung wird nach A. Cramer auf Halluzinationen im Muskelsinn der Sprachorgane bezogen, um so glaubhafter, da meistens in Sprachvorstellungen gedacht wird. Zum Teil machen die Kranken nur nachträglich den Schluß auf das Lautwerden ihrer Gedanken, weil sie die Vorgänge wahnhaft zu ihren Gedanken in Beziehung setzen.

      Die Beobachtung der Sinnestäuschungen erfordert eine gewisse Übung. Nicht immer sind die Kranken geneigt, darüber Auskunft zu geben, sie verheimlichen und verleugnen sie aus verschiedenen Gründen, etwa weil sie ihnen selbst noch unklar oder unerklärt erscheinen, oder weil sie aus Erfahrung wissen, daß man die Zustände für krankhaft hält, auch wohl, weil die Stimmen selbst Schweigen darüber geboten haben. Dann gibt oft das Benehmen Hinweise: auffallendes Spähen oder Horchen, verzückter oder gespannter Ausdruck bei Gesichts- und Gehörstäuschungen, Verdecken des Gesichts bei Geruchstäuschungen, häufiges Ausspeien bei Geschmackstäuschungen, eigentümliche Stellungen und Bewegungen bei Störungen des Gemeingefühls. Gehörshalluzinanten erwidern den »Stimmen« häufig mit Schimpfworten oder in Sätzen, woraus man den Inhalt des Gehörten entnehmen kann.

      Aber auch wo die Kranken selbst von Sinnestäuschungen berichten, muß man mit dem Urteil vorsichtig sein, weil unter Umständen tatsächliche Vorgänge oder auch Träume zugrunde liegen können. Der Beobachter hat stets die Verpflichtung, objektiv und ohne vorgefaßte Meinung zu prüfen. Eine Geisteskrankheit liegt nur vor, wenn zweifellose Sinnestäuschungen als normale Beobachtungen verwertet werden und keine Belehrung angenommen wird.

      2. Störungen der Verstandestätigkeit.

      Die Grundlage aller geistigen Vorgänge bildet die im vorigen Abschnitt in physiologischer und pathologischer Hinsicht besprochene Tätigkeit der Sinnesorgane. Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Der Sinnesreiz mag noch so flüchtig sein, der dadurch in der Großhirnrinde hervorgerufene Eindruck bleibt aufbewahrt, als eine materielle Veränderung, die beliebige Zeit schlummern, aber dann durch ähnliche Reize oder durch zufällige oder absichtliche Ideenassoziationen erweckt werden kann. Die meisten äußeren Dinge wirken nicht auf ein Sinnesorgan allein, sondern zugleich auf mehrere. Eine Persönlichkeit, die wir kennen lernen, prägt sich uns nicht nur nach ihrem Aussehen, also durch den Gesichtsinn, ein, sondern auch nach dem Klange ihrer Sprache, nach dem Gefühl ihres Händedrucks, und sie bleibt zugleich verbunden mit dem Ort, wo wir sie kennen lernten, und mit den Mitteilungen, die wir über sie erhielten; sie kann auch für uns dauernd in Verbindung treten mit den Erinnerungen an einen Ort, wohin sie reisen wollte oder wovon sie uns sprach, sie hat uns vielleicht durch ihre Kleidung, durch Eigentümlichkeiten des Ausdrucks oder der Haltung usw. an irgend jemand erinnert. Diese Andeutungen zeigen, wie verschiedenartige Verknüpfungen schon ein zufälliger Eindruck haben kann. Von allen diesen Anknüpfungspunkten kann später der Eindruck wieder wachgerufen werden; eine ähnliche Stimme, die wir irgendwo hören, kann uns die ganze Situation wieder ins Gedächtnis rufen, die dem ersten Eindruck zugrunde lag. Es ergibt sich daraus, daß erstens die Erregungen verschiedener Sinneszentren eng miteinander verbunden werden und bleiben, und zweitens, daß sich an Sinneseindrücke alsbald geistige Funktionen anschließen. Ungenaue und flüchtige Eindrücke werden regelmäßig durch Verknüpfung mit ähnlichen oder verwandten Erinnerungsbildern ergänzt. So verbessern wir beim Lesen unmerklich die Druckfehler, wir ergänzen halbgehörte Sätze eines Redners nach dem Sinn, natürlich um so vollkommener, je vertrauter uns der behandelte Gegenstand ist. Wo dagegen die zum Verständnis nötigen Assoziationen fehlen, ist die Möglichkeit irriger Auffassungen vorhanden. Die gesunde Geistestätigkeit befähigt zu genauen Wahrnehmungen, weil ihr die Eigenschaft der Aufmerksamkeit zukommt. Man versteht darunter nicht etwa eine besondere Geistesfunktion, sondern nur die erfahrungsmäßige Erscheinung, daß gewisse Eindrücke und Vorstellungen zeitweise im Vordergrund der Beobachtung und des Denkens stehen, entweder durch ihre hervorragende Deutlichkeit, als auffallende Teile des Gesamtbildes, oder durch den besonderen Gefühlston, der sie uns annähert und verwandte Assoziationen wachruft. Wir sehen z. B. im Straßengewühl der Großstadt entweder die auffallenden Erscheinungen, hören die lautesten Geräusche usw., wir können aber, wenn es uns genehm ist, bestimmte weniger auffallende Dinge beobachten und aus dem allgemeinen Lärm etwa die Klänge einer leise ertönenden Melodie heraushören. Ohne eine solche Auswahl würden wir beständig der Spielball trügerischer Wahrnehmungen und unangenehmer, für uns gleichgültiger oder störender Eindrücke sein. Jede stärkere Ermüdung bringt Zustände, die daran erinnern, insbesondere die Unfähigkeit, logischen Auseinandersetzungen zu folgen; der Ermüdete überhört wichtige Teile der Darstellung und wird durch jede unbedeutende Störung abgelenkt. In Erschöpfungspsychosen, bei der manischen Ideenflucht, bei akuten Vergiftungen mit Gehirngiften ist die Fähigkeit zur Konzentrierung der Aufmerksamkeit völlig verloren gegangen und damit die richtige Beurteilung der äußeren und inneren Vorgänge schwer gestört; dasselbe tritt ein, wenn durch organische Erkrankungen, wie bei Dementia paralytica, die Assoziationsbahnen untergehen, die den normalen Zusammenhang der Vorstellungen ermöglichen.

      Die in ihrem Wesen noch völlig dunkle Umwandlung physiologischer Reize in psychische Vorgänge und die damit verbundene Wahrnehmung des Auftretens von Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen und Willensregungen nennen wir Bewußtsein. Aus der Gesamtheit der Organ- und Lagegefühle und der Lust- und der Unlustempfindungen des Organismus ergibt sich das Bewußtsein der Körperlichkeit; aus der Erfahrungserkenntnis, daß die früher erlebten und durch die Erinnerung erneuten geistigen Zustände demselben Subjekt angehören, resultiert das Bewußtsein der Persönlichkeit; diese beiden, die man auch als Selbstbewußtsein zusammenfaßt, stehen dem Bewußtsein der Außenwelt gegenüber, das die äußeren Vorgänge erfaßt. In gewissen Krankheitzuständen kann das Selbstbewußtsein aufgehoben sein, während das Bewußtsein der Außenwelt nicht erheblich gestört ist. Dadurch kommen dann scheinbar überlegte Handlungen zustande, die doch dem Bewußtsein des Handelnden fremd sind und auch nicht in die Erinnerung aufgenommen werden. Solche Dämmerzustände finden sich besonders bei Epilepsie und Hysterie und machen oft gerichtsärztliche Schwierigkeiten. Eine weitere Steigerung dieser Störung bezeichnet man als Bewußtlosigkeit; hier ist die Tätigkeit des Denkorgans völlig aufgehoben, es wird weder empfunden noch gedacht, und keine Willensregung tritt ein. Das Kennzeichen der Bewußtlosigkeit ist das nachträgliche Fehlen aller Erinnerungen für die betreffende Zeit, die Amnesie. Sie erstreckt sich oft auch noch auf die letzte Zeit vor dem Eintreten der Bewußtlosigkeit, so daß z. B. Erhängte, die wieder ins Leben gerufen werden konnten, oft gar nichts von ihren Selbstmordvorbereitungen


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