Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte. Dornblüth Otto

Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte - Dornblüth Otto


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bei erheblich Belasteten sind oft schon die normalen Anforderungen des Lebens, z. B. zur Zeit des Selbständigwerdens, des Militärdienstes, hinreichend, um Seelenstörungen zum Vorschein zu bringen.

      Besonderer Sorgfalt bedarf es in vielen Fällen, um bei der Beurteilung der Entstehung einer Geisteskrankheit nicht Ursache und Wirkung zu verwechseln. Von Laien geschieht dies sehr häufig, indem z. B. die mit einer abnormen Geistesanlage oder mit dem Beginn einer ausgesprochenen Geisteskrankheit verbundene Neigung zum Trunk, zu Onanie und anderen geschlechtlichen Ausschweifungen, zu hochfahrendem Auftreten gegen Andere u. dgl. m. für die Ursache der späteren Krankheit gehalten wird. Wo derartige Neigungen im Beginn akuter Störungen auftreten, ist die Unterscheidung bei gewissenhafter Anamnese meist leicht, weil der Gegensatz zu dem früheren Verhalten in die Augen springt. Freilich wird er oft dadurch verschleiert, daß man annimmt, der Betreffende sei z. B. durch Gemütsbewegungen zum Trunk getrieben und durch Trunk geisteskrank geworden, während er in Wahrheit durch Gemütsbewegungen krank wurde und in der Krankheit zu trinken begann. Wo das abnorme Verhalten auf dauernder abnormer Geistesbeschaffenheit, insbesondere auf erblicher Belastung beruht, ist die Erkennung nur auf Grund irrenärztlicher Erfahrung möglich. Die Laien sind deswegen in diesen Fällen meist schwer von der Wahrheit zu überzeugen, um so mehr, da in allen Kreisen eine Unmasse von törichten Vorurteilen aufgespeichert ist. Ein wichtiges Beispiel geben hier die häufigen Fälle, wo die Umgebung die Krankheitsursache je nach dem — oft trügerischen — äußeren Schein in Onanie, geschlechtlicher Nichtbefriedigung oder übermäßigem Geschlechtsgenuß sucht, während in Wahrheit alle drei Erscheinungen oder zum mindesten ihre üblen Folgen nur der Ausfluß der abnormen Veranlagung sind. Sehr oft trifft man es auch, daß die Angehörigen des Kranken in sehr bestimmter Weise irgend welchen Personen oder Vorfällen die Schuld beimessen, während es sich um von selbst entstandene Krankheiten, syphilitische Psychosen usw. handelt.

       Inhaltsverzeichnis

      Eine pathologische Anatomie in dem Sinne, wie sie für die meisten körperlichen Krankheiten feststeht, ist für die Geisteskrankheiten noch zu schaffen. Für eine Reihe derselben ist anzunehmen, daß es sich um funktionelle Störungen handelt, d. h. um molekulare Veränderungen in der Hirnrinde, die teils den heutigen Untersuchungsmethoden noch nicht zugänglich sind, teils in flüchtigen Hyperämien und Anämien bestehen, die mit dem Ablauf des Lebens verschwinden und deshalb durch keine Untersuchung festgestellt werden können. Die funktionellen Neurosen und Psychosen beruhen in letzter Linie auf nutritiven Störungen der funktionstragenden Nervensubstanz und insbesondere der zentralen Nervenzelle, und zwar sowohl in einer Schädigung der assimilatorischen als auch der dissimilatorischen (kraftverbrauchenden) Prozesse innerhalb der Nervenzelle. Nach bestimmten Untersuchungen glaubt Binswanger die ausgleichbaren funktionellen Schädigungen, die einem völligen Ausgleich zugänglich sind, auf Partialschädigungen der Bestandteile der Nisslschen Körper in der Zelle beziehen zu können; je schwerer die Schädigung und je unvollkommener die Konstitution der Nervenzelle und je größer der Widerspruch zwischen Ansprüchen und Wiederersatz, um so schwerer ausgleichbar sind die Veränderungen. Vielleicht seien bei den bleibenden funktionellen Störungen der schweren Erschöpfung nicht nur die Nisslschen Körper, sondern auch die funktionstragende Nervensubstanz im engeren Sinne, das Neurosoma Helds, mitbeteiligt, aber auch hier könne es sich nur um Partialschädigungen handeln, weil die Funktion nur herabgemindert, nicht aber aufgehoben und dauernd vernichtet sei. Bei noch stärkeren Einwirkungen kann die ganze Nervenzelle ergriffen werden und können nicht nur die Nisslschen Granula, sondern die ganze Zelle zerstört werden, was Binswanger speziell für das Delirium acutum nachgewiesen hat. Insbesondere können die syphilitischen Toxine alle Grade von Veränderungen bewirken, von Partialschädigungen, die das Bild der Neurasthenie bis zu verwickelten Paranoiafällen ergeben, bis zu den schweren Degenerationen bei viszeraler und zerebraler Syphilis und Dementia paralytica, und zwar können bei der langdauernden, oft schubweise erfolgenden Einwirkung syphilitischer Toxine auf das Nervensystem die verschiedensten Grade der Schädigung nebeneinander vorkommen (Neurasthenie neben bleibenden Herdsymptomen, reflektorischer Pupillenstarre, Aufhebung des Patellarreflexes u. dgl. ohne fortschreitenden Verlauf).

      Für die Dementia paralytica, die arteriosklerotischen Störungen, die Dementia senilis und für die Idiotie liegen schon heute zahlreiche pathologisch-anatomische Befunde vor, die bei diesen Krankheiten besprochen werden sollen. Endlich finden sich grobe Veränderungen, die schon für das bloße Auge sichtbar sind, bei allen länger bestehenden und mit Verblödung verbundenen Geisteskrankheiten. Zunächst an den Umgebungen des Gehirns, am Schädel in Gestalt von Exostosen oder von allgemeiner Verdickung, an der Dura mater als Verwachsung mit dem Schädeldach, zumal an den Nähten, oder als chronische Pachymeningitis. Wichtiger noch sind die Veränderungen der weichen Hirnhaut. Diese ist getrübt, hyperämisch oder zellig infiltriert, wäßrig oder sulzig verdickt, die größeren Gefäße sind oft strotzend gefüllt. Diese Veränderungen sind meist in der Gegend der Sylvischen Spalte und an der Konvexität des Gehirns am stärksten. Nicht selten besteht erhebliche Ansammlung klarer oder leicht getrübter Flüssigkeit im Subduralraum und in den Gehirnhöhlen. Die weiche Haut ist in vielen Fällen mit der Gehirnrinde verwachsen und nicht ohne Abreißung von Rindenteilchen abzulösen, andre Male ist sie nicht verlötet und gerade wegen ihrer Verdickung leicht abziehbar. Auch die Plexus chorioidei sind oft verdickt und getrübt, das Ependym der Ventrikel, zumal des vierten, verdickt und mit zahlreichen ganz feinen, nur im spiegelnden Licht erkennbaren Körnchen besetzt oder durch gröbere in eine sich rauh anfühlende Fläche verwandelt. In der Gehirnmasse wechseln die Festigkeit und der Blutgehalt; punktförmige Blutergüsse und Erweiterungen der perivaskulären Räume, wodurch ein eigenartiges, siebähnliches Aussehen, état criblé, entsteht, sind häufig, ebenso umschriebene Veränderungen der Färbung und der Festigkeit. Die Gehirnwindungen sind häufig deutlich atrophisch, wie sich aus der Verbreiterung der Furchen und minder sicher bei der Betrachtung ihrer Schnittflächen ergibt; oft ist die Rinde blaß und die Zeichnung ihrer Schichten verwischt. Dabei kann sie erweicht oder von vermehrter Festigkeit sein. Die mikroskopische Untersuchung hat besonders für die Dementia paralytica arteriosclerotica und senilis, für einzelne Formen von Idiotie, für das Delirium tremens und anscheinend auch für die Dementia praecox bestimmte Befunde ergeben, doch stehen wir hier noch im Anfang der Kenntnisse. Der anatomische Befund gestattet bisher nur in den angeführten Krankheiten die Diagnose der Krankheitsform. Starke Veränderungen der Gehirnoberfläche in der eben geschilderten Art machen das Vorherbestehen einer schweren Geisteskrankheit sehr wahrscheinlich, dagegen schließt ein anscheinend normaler Befund nicht aus, daß der Betreffende bis zu seinem Tode geisteskrank gewesen ist.

      Die Versuche, aus allgemeinen Stoffwechselbeobachtungen einen Einblick in die chemischen Vorgänge des Gehirns von Geisteskranken zu gewinnen, haben bisher nichts Bestimmtes ergeben. Sowohl über die physikalische als über die chemische Beschaffenheit des Blutes haben die Forscher die verschiedensten Erfahrungen veröffentlicht, und ebenso ist es mit den Harnuntersuchungen, zumal auf Harnstoff und Phosphorsäure, gegangen. Es wird damit auch jedenfalls erst dann Besseres zu erzielen sein, wenn eine gewisse Einigkeit über die Abgrenzung der einzelnen Formen erzielt sein wird; es ist natürlich sehr wahrscheinlich, daß die verschiedenen Krankheiten darin sehr voneinander abweichen werden.

       Inhaltsverzeichnis

      Das einheitliche und in seiner Tätigkeit tatsächlich unteilbare Seelenleben kann man sich zum Zweck der Betrachtung und Erforschung in Teile zerlegt denken. Die herkömmliche Einteilung zerlegt die geistigen Vorgänge in Wahrnehmung, Vorstellen und Streben. Die Sinneseindrücke werden aufgenommen und gedeutet, mit vorhandenen Vorstellungen verknüpft und je nachdem wieder wachgerufen, unter wechselnder Gefühlsbetonung, und schließlich werden die Vorstellungen in Willensantriebe und Handlungen umgesetzt. In jedem dieser Gebiete können krankhafte Störungen auftreten.


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