Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte. Dornblüth Otto
gesundem Bewußtsein werden die Erinnerungen auch in verschiedener Deutlichkeit festgehalten. Das hängt einerseits, wie schon hervorgehoben wurde, von der Stärke des Eindruckes und seinem Gefühlstone ab, andererseits auch sehr wesentlich von dem Zustande des Gehirns. Die Fähigkeit des Gehirns, frische Eindrücke festzuhalten, nennt man, nach Wernicke, die Merkfähigkeit. Sie ist normalerweise größer in der Jugend als im Alter; krankhafte Störungen erleidet sie überall da, wo durch Zerfahrenheit der Assoziationen oder durch ungenaue Wahrnehmungen das Erinnerungsbild von vornherein matt aufgenommen wird. Insbesondere die chemische Schädigung des Gehirns durch Alkohol stört sehr die Merkfähigkeit, aber auch die gewöhnliche Ermüdung wirkt ungünstig darauf ein, zum Teil aus den eben genannten Gründen. Wiederholung der Eindrücke trägt sehr zur Festigung des Erinnerungsbildes und seiner Assoziationen bei; daher die Erscheinung, daß die in der Jugend erfahrenen und durch Wiederholen auswendig gelernten Vorstellungskreise bis in das späteste Alter geläufig bleiben: das Gedächtnis bleibt erhalten, auch wenn die Merkfähigkeit stark abnimmt. Das zeigt sich auch bei Krankheiten sehr deutlich; bei funktionellen Psychosen ist die Merkfähigkeit oft ganz aufgehoben, aber das Gedächtnis ungestört, soweit die Kranken zu Äußerungen zu bewegen sind; bei organischen Psychosen treten die Störungen des Gedächtnisses erst ein, wenn größere Teile des Assoziationsorganes zugrunde gegangen sind. Die geringeren Störungen der Merkfähigkeit äußern sich durch mangelhafte zeitliche Verknüpfung der Eindrücke; der Kranke weiß nicht mehr, ob er etwas Bestimmtes heute oder gestern erlebt oder erzählt hat usw. Indem dabei die Tatsachen gewissermaßen willkürlich geordnet werden, kommt es zu Entstellungen der Wahrheit, zu Erinnerungsfälschungen, ganz besonders, wenn Gefühlsbetonungen oder die Beteiligung der eigenen Persönlichkeit mitspielen, also die Wahrnehmung durch das Urteil mit beeinflußt wird. Wie es Gesunde gibt, die nach einem lebhaften Streit glauben, alles das gesagt zu haben, was ihnen in Wirklichkeit erst nachher als passende Antwort eingefallen ist, so wird unter krankhaften Verhältnissen noch in viel stärkerer Weise die Wirklichkeit mit den Zutaten der Einbildungskraft vermischt. Namentlich bei Dementia paralytica, im Delirium tremens, bei Psychosis polyneuritica und bei gewissen Formen von Paranoia und Dementia praecox kommt es dadurch zu den eigentümlichsten Konfabulationen. Auch eine Gruppe der Grenzzustände verdankt dieser Eigenart den Namen der Pseudologia phantastica, der pathologischen Lügensucht.
Zu den Erinnerungsfälschungen rechnet man auch die von Sander beschriebene Empfindung, ein eben stattfindendes Erlebnis schon einmal ganz ebenso durchgemacht zu haben. Die Erscheinung, die man auch als Doppeldenken bezeichnet, kommt bei Gesunden gelegentlich in Zuständen der Erschöpfung vor und ist bisher unerklärt. Daß sie auf ungleichzeitigem Denken beider Gehirnhälften beruhe, ist nicht anzunehmen. Unter krankhaften Verhältnissen kommt die Empfindung besonders ausgebildet bei Epileptischen und Hysterischen vor.
Wird der innere Zusammenhang des Vorstellungsablaufs gestört, so entsteht Verwirrtheit, Inkohärenz. Eine Andeutung davon bringen vielfach schon unruhige Träume, namentlich bei Übermüdung oder im Fieber, ferner gehört dazu das zusammenhangslose Denken in manchen Rauschzuständen. Das Wesen der Verwirrtheit liegt darin, daß nicht wie im normalen Zustande bestimmte leitende Vorstellungen das Denken beherrschen, sondern daß der Zufall äußerer oder innerer Reize die Assoziationen bestimmt. Bei geringeren Graden ist oft noch ein gewisser Zusammenhang der aufeinander folgenden Vorstellungen nachweisbar, oder eine Bestimmung durch äußere Eindrücke. Bei dieser Ideenflucht ist vielfach die äußere Ähnlichkeit der Worte, der Gleichklang oder der Rhythmus bestimmend für die Aneinanderreihung. Das akute Auftreten von Verwirrtheit ist ganz besonders an eine mehr oder weniger schwere, oft rauschartige Trübung des Bewußtseins gebunden: unter Umständen wird sie durch massenhaft auftretende Halluzinationen oder durch krankhafte Affektzustände begünstigt, doch sind diese nicht immer dabei vorhanden. Oft bildet die Verwirrtheit einen Teilzustand der erwähnten Dämmerzustände, im allgemeinen ist aber eine erhöhte Ablenkbarkeit der Vorstellungstätigkeit dazu erforderlich. Infolgedessen verbindet sich die geistige Verwirrtheit gewöhnlich auch mit einer Unstetigkeit und regellosen Geschäftigkeit der Bewegungen.
Eine andere wichtige Störung des Vorstellungsablaufes ist die Denkhemmung. Es besteht dabei, oft von den Kranken selbst deutlich und schmerzlich empfunden, eine Verlangsamung der Wahrnehmung und der Assoziationen und eine Beschränkung des Denkens auf bestimmte Gebiete, die der wohl immer zugrunde liegenden trüben Stimmung entsprechen. Die Erschwerung des Denkens kann so weit gehen, daß der Kranke dem Beobachter als erheblich schwachsinnig oder gar blödsinnig erscheint, während mit dem Schwinden des depressiven Affekts alsbald ein völlig ungestörtes Denkvermögen wieder da ist. Bei Besprechung der Melancholie wird darauf zurückzukommen sein.
Bei den Erinnerungsfälschungen greifen die sonstigen Vorstellungen des Betreffenden in die Wahrnehmungen verändernd ein. Bei andern krankhaften Zuständen werden, wie ebenfalls schon angedeutet ist, wenig oder gar keine Assoziationen gebildet, hier muß also außer der Gedächtnisschwäche auch eine Urteilschwäche eintreten, da das Urteil, die Kritik ja nur in der Verknüpfung der gegenwärtigen Vorstellungen mit denen des Erfahrungschatzes besteht. Es ist ohne weiteres klar, daß jede Störung der Wahrnehmung, der Erinnerung und der Vorstellungverknüpfung das Urteil schädigen muß; am schwersten ist die Schädigung, wenn alle drei Arten von Störungen zusammenwirken. Jede gefälschte Wahrnehmung und noch mehr eine Halluzination muß zu falschen Vorstellungen führen, wenn sie nicht durch Überlegung und Urteil auf ihren richtigen Wert zurückgeführt wird. Wenn eine falsche Vorstellung infolge krankhafter Assoziationstörungen nicht berichtigt wird, während ihre Berichtigung nach den Fähigkeiten des Betreffenden im übrigen möglich wäre, so bezeichnet man sie als Wahnvorstellung. Daraus ergibt sich, daß man die falsche Vorstellung und die Wahnvorstellung nur durch die Beurteilung der ganzen Persönlichkeit, oft nur durch Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse unterscheiden kann. Wenn ein einfacher Mann sich einreden läßt, es sei möglich, durch irgend eine Vorrichtung die Schwerkraft aufzuheben, so ist das eine falsche Vorstellung; wenn ein Physiker dasselbe glaubt, so ist das eine Wahnidee. Ähnlich unterscheidet sich auch der Aberglaube von der Wahnvorstellung. Wenn endlich eine Frau die Untreue ihres Mannes behauptet, so kann nur die Erhebung der Tatsachen feststellen, ob das eine richtige, eine irrtümliche oder eine wahnhafte Auffassung ist. Oft ist daher die Beurteilung unendlich schwer.
Bei Geisteskranken kommen Wahnvorstellungen im Anschluß an Sinnestäuschungen oder an Erinnerungsfälschungen oder wohl am häufigsten als primäre Störungen der Vorstellungstätigkeit vor. Vermutlich begründet eine krankhafte Gefühlsbetonung (vgl. S. 33) bestimmter, umschriebener Gedankenreihen, die meist auf die eigene Persönlichkeit Bezug haben, diese Störung des Urteils. Das geschieht natürlich um so leichter, wenn ein allgemeiner Affektzustand oder eine Bewußtseinstrübung das klare Denken und die Kritik erschwert. Die in solchen Zuständen entstandenen Wahnvorstellungen verblassen und verschwinden daher gewöhnlich mit der Wiederkehr gesunder Überlegung. Wo dagegen die Wahnvorstellung bei klarem Bewußtsein auftritt und wegen der krankhaften Disposition des Gehirns nicht korrigiert wird, wird sie meist ein fester Bestandteil des Denkens, fixe Idee, mit derselben Gültigkeit wie der normale Erfahrungschatz, und es werden darauf andere Vorstellungen logisch aufgebaut, die wegen ihrer krankhaften Grundlage vielfach ebenfalls wahnhaft sein müssen. Man spricht dann von Systematisierung des Wahns. Daneben können die geistigen Verrichtungen, die nicht direkt mit den Wahnvorstellungen oder mit ihrer krankhaften Grundlage zusammenhängen, lange Zeit ziemlich ungestört einhergehen. Man glaubte ehemals, daraus eine »partielle« Geistesstörung ableiten zu dürfen. Indessen schreitet in solchen Fällen die wahnhafte Verfälschung des Denkens allmählich und in kaum merklichem Übergange auf andere Gebiete weiter, und es ist nie mit Sicherheit anzugeben, welche Urteilsreihen noch von dem krankhaften Einflüsse frei sind. Dieser wird gewöhnlich auch noch dadurch verstärkt, daß neben den Wahnideen allmählich entsprechende Illusionen und (psychische oder zentrifugale) Halluzinationen als Folgeerscheinungen desselben krankhaften Gehirnzustandes aufzutreten pflegen.
Dem Inhalte nach unterscheidet man die beiden großen Gruppen der depressiven und expansiven Wahnideen oder den Kleinheits- oder Beeinträchtigungswahn und den Größenwahn. Zu jenem gehören besonders die hypochondrischen Vorstellungen, die sich