Kompendium der Psychiatrie für Studierende und Ärzte. Dornblüth Otto

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geistiger Erkrankung wird am meisten durch die Vererbung bestimmt. Am seltensten so, daß bestimmte Krankheiten sich von den Eltern oder Vorfahren auf die Nachkommen übertragen, sondern meist in der Weise, daß die Nachkommen ein weniger widerstandsfähiges Gehirn oder Nervensystem auf die Welt mitbringen. In diesem Sinne überträgt sich erfahrungsgemäß eine Vererbung, besser eine erbliche Veranlagung auf die Nachkommen nicht nur von Geisteskranken, sondern auch von konstitutionell Nervenkranken (mit Epilepsie, Hysterie, Migräne, konstitutioneller Neurasthenie usw.), von Menschen mit auffallenden Charakteren, mit Neigung zu Verbrechen oder zu Selbstmord, und ebenso gefährdend für die geistige Widerstandskraft der Nachkommen sind Trunksucht und Syphilis der Vorfahren, letztere bis in die dritte Generation! Die Vererbung erfolgt entweder direkt von einem der Eltern, auch wenn bei ihnen die deutliche Störung usw. erst später ausbricht, oder mit Überspringung derselben von einem der Großeltern her. In letzterem Falle findet sich nicht selten eine der aufgezählten Abweichungen bei Geschwistern des Vaters oder der Mutter, als Hinweis darauf, daß die Anlage auch in dieser Generation vorhanden, aber durch irgendwelche Umstände nicht (oder noch nicht) zur Äußerung gekommen ist. So ist also bei der Aufnahme der Erblichkeitsverhältnisse eine Nachforschung auch über die Seitenverwandten wertvoll, wenn sie verständig ausgenützt wird.

      Schädigend für die Erzeugten wirken außerdem Schwächezustände der Eltern zur Zeit der Zeugung, insbesondere zu großer Altersunterschied, zu jugendliches oder zu vorgerücktes Alter, chronische Krankheiten wie Diabetes usw., Tuberkulose, schlechter Ernährungszustand durch Not oder überstandene schwere Krankheiten u. dgl. mehr; ebenso erklärlicherweise auch Not, Kummer u. dgl. der Mutter während der Schwangerschaft. Ob die Blutsverwandtschaft der Eltern an sich schädlich wirkt, ist streitig, sicher ist sie doppelt gefährlich, wenn krankhafte Anlagen von beiden Seiten zusammenfließen, und bewirkt dann oft fortschreitende Entartung.

      Die Wirkung der Vererbung, die sich bei etwa 40% der Geisteskranken nachweisen läßt, ist trotzdem keine zwingende. Auch das Kind zweier geisteskranker Eltern kann geistig gesund bleiben. Es kommt wohl darauf an, wieweit die Krankheit der Eltern als in der Konstitution liegend betrachtet werden muß, oder ob sie sich mehr als nicht vererbbare erworbene Schädigung darstellt. Durchsichtiger ist es, daß bei Gesundheit des Vaters und Abnormität der Mutter oder umgekehrt das Kind gesund bleiben kann, indem der Einfluß des gesunden Teils überwiegt. Im allgemeinen scheint der Einfluß des Vaters bei der Vererbung krankhafter Anlagen größer zu sein und besonders die Töchter zu bedrohen.

      Die erbliche Anlage verrät sich bald gar nicht, bald in der verschiedensten Art. Ist sie erkennbar, so spricht man von erblicher Belastung, bei hohen Graden von erblicher Entartung, Degeneration. Zu den leichteren Formen gehören das nervöse Temperament (reizbare Schwäche in geistiger und körperlicher Beziehung, Disharmonie des Gemütslebens, krankhafte Depression oder Reizbarkeit, periodische Stimmungsschwankungen, Neigung zu Angst- und Zwangszuständen), die Neigung zu Trunk, Ausschweifungen, Sonderbarkeiten, zu den schwereren Erscheinungen die großen Neurosen, die sexuellen Perversionen, die ungleichen Begabungen, das Fehlen des moralischen Sinnes usw., das manisch-depressive Irresein und die Grenzzustände sowie das große Gebiet der Dementia praecox, ferner die Selbstmordneigung, die Idiotie und die Imbezillität. Die schwersten Formen führen durch soziale Wirkungen oder durch die körperliche Unfähigkeit zum Erlöschen der Familie und damit zum Aufhören der Vererbung.

      Die erbliche Belastung pflegt sich auch durch körperliche Zeichen, sogenannte Degenerationszeichen, zu verraten, die zwar auch ohne geistige Zeichen der Belastung vorkommen, aber immerhin als Hinweis und im Verein mit den psychischen Äußerungen von Wert sind. Dazu gehören Asymmetrie des Schädels oder Gesichts, auffallende Form des Schädels, fliehende Stirn, übermäßig starke Entwickelung des Oberkiefers oder des Unterkiefers, Vorspringen der Jochbeingegend, sehr unregelmäßige Zahnstellung, flacher oder zu stark gewölbter Gaumen, ungleich hohe Anheftung, henkelförmiges Abstehen, zu grobe Bildung der Ohrmuschel, Fehlen ihres Läppchens, ihres Randes u. dgl. m., allgemeines körperliches Zurückbleiben (Infantilismus), mangelhafte Haarbildung, abnorm späte Menstruation, Ungleichheit der Pupillen, Irisflecken, Kolobom, angeborener Nystagmus, essentieller Tremor usw.

      Das Zustandekommen dieser körperlichen Zeichen ist ebenso wie das Wesen der erblichen Belastung noch ganz unklar. Von Theorien der letzteren wären die zu nennen, wonach die verminderte Widerstandsfähigkeit auf vererbter zu geringer Blutversorgung des Gehirns beruht, und eine zweite, wonach es sich um angeborene leichtere Erschöpfbarkeit der Zentralorgane handelt.

      Neben der Vererbung ist von großem Einfluß auf die persönliche Veranlagung die Erziehung im weitesten Sinne. Man darf trotz aller Einwürfe annehmen, daß Erziehung und Gewöhnung gegen erbliche Anlagen oft im guten Sinne unendlich machtvoll sind. Leider wirken am häufigsten beide in schädlicher Richtung zusammen, weil die Erzeuger der krankhaften Anlage zugleich die Erzieher sind. Abnorme Eigenschaften der Erzieher gefährden vor allem durch planloses Wechseln zwischen Strenge und Nachgiebigkeit die Bildung eines ruhigen, gefestigten Charakters, sie unterwerfen schon das Kind, den werdenden Menschen, Affekten und Gemütsbewegungen, die ihm schädlich sind, und beeinträchtigen das Gleichmaß der Arbeit, das für die gesunde geistige Ausbildung unentbehrlich ist.

      Sehr wichtig ist als Unterabteilung der Erziehung auch die körperliche Gewöhnung. Unzweckmäßige Ernährung, mangelnde Hautpflege, übermäßiges Warmhalten, ungenügender Schlaf schädigen die gesunde Entwicklung des Gehirns und des Nervensystems und untergraben damit die Widerstandsfähigkeit.

      2. Allgemeine Veranlagung.

      Ein allgemeiner Einfluß auf die Zunahme der Geisteskrankheiten wird herkömmlich der Zivilisation zugeschrieben, oder wie das Schlagwort meist lautet: dem rastlosen Streben und Vorwärtsdrängen unserer Zeit. Dagegen spricht zunächst ziemlich gewichtig der Umstand, daß in allen Ländern, wo Zählungen der Irren zuverlässig durchgeführt sind, ihre Verhältniszahl gegenüber der gesunden Bevölkerung ziemlich die gleiche ist, nämlich etwa 3 auf 1000. Dieser Satz hat sich nicht nur fast genau übereinstimmend für die meisten Kulturländer ergeben, sondern z. B. auch für Montenegro, wo außer den Schäden der Überkultur noch der Alkoholismus, eine sichere Ursache zahlreicher Geisteskrankheiten, wegfällt. Eine bestimmte Entscheidung, ob die Irrenzahl stärker wächst, als die der Gesunden, ist schon deshalb unmöglich, weil aus früherer Zeit keine erschöpfenden Zählungen vorliegen. Die Zunahme der Anstalten darf dafür nicht verwendet werden, denn sie beruht teils auf der wachsenden Fürsorge für Kranke und Schwache, die schon wegen der modernen Lebensverhältnisse dringend geboten ist — die Irren werden heutzutage viel leichter gemeingefährlich als früher bei der Abgeschlossenheit der einzelnen Orte —, teils auf dem Schwinden des Vorurteils gegen die Anstalten. Es ist wohl wahrscheinlich, daß die stärkeren Anforderungen, die die heutige Welt an den Einzelnen stellt, durch bessere Ernährung und Lebensweise in ihrer schädlichen Wirkung wieder ausgeglichen werden.

      Ebensowenig Bestimmtes läßt sich über den Rasseneinfluß sagen, nur das dürfte feststehen, daß die Juden, wie überhaupt die orientalischen Völker, etwas mehr zu geistigen Störungen veranlagt sind, und daß diese bei ihnen besonders zu ungünstigen Ausgängen, chronischer Verwirrtheit usw., neigen.

      Klima und Jahreszeit sind ohne durchgreifende Bedeutung, wo sie sich nicht etwa mit krankmachenden äußeren Einflüssen verbinden.

      Weit wichtiger ist die Beziehung zwischen Krankheitanlage und dem Alter und dem Geschlecht. Das Kindesalter besitzt, wenn man von den angeborenen Entwicklungshemmungen und von den schweren Erkrankungen der ersten Jahre absieht, einen gewissen Schutz gegen geistige Erkrankungen, obwohl von diesen zumal Melancholie, Manie, hysterische


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