Louise Otto: Frauenbewegung Essays, Romane, Biografien & Gedichte. Louise Otto
– dann möchte sie zu große Stiche machen – auch darf sie nicht durchs Fenster auf die Straße blicken – das wäre gleich eine Arbeitversäumnis. – Wie gesagt, eine Nähterin, die noch nicht ganz verlassen ist, kann ein solches Leben schon ertragen, dabei auskommen – aber wenn sie nun ganz allein steht? oder noch einen alten Vater, eine stumpfe Mutter mitzuerhalten hat? oder gar Kinder? Im erstern Falle ist sie noch besser daran, dann kann sie als Nähterin zum Ausbessern auf die Stube zu den Leuten gehen, da bekommt sie 2 Ngr. 5 Pf. und das Mittagsessen – so hat sie wenigstens dies und erspart Holz und Licht zu Hause, kann auch bis Tagesanbruch schlafen und ist abends von 8 Uhr an frei. Ist sie so glucklich, Schneidern gelernt zu haben, bekommt sie 5 Ngr., wohl auch 7 Ngr. 5 Pf. bis 10 Ngr. den Tag. Solche Mädchen haben unter den weiblichen Arbeiterinnen noch das glücklichste Los gezogen, aber sie haben in der Regel sich auch erst das Erlernen der Schneiderei müssen etwas kosten lassen. – Auch wird von ihnen schon eine gute Erziehung und feinere Bildung verlangt, wenn die gebildeten Familien sie in ihrer nächsten Umgebung sehen sollen. Die arm und unwissend aufgewachsenen Mädchen eignen sich daher zu diesem Geschäfte nicht. Die Schneidermädchen haben in der Regel auch keine Ursache zur Klage – nur eine Unsitte will sich hier und da in ihre Behandlung einschleichen – es ist die, sie nicht mit dem Feierabend um 8 Uhr zu entlassen. In manchen Familien wird ihnen zugemutet, länger, ja bis 9 und 10 Uhr zu arbeiten, wenn etwa ein Stück noch nicht vollendet ist. Es mag dies manchmal wünschenswert sein, aber dann haben die Mädchen auch das Recht, für diese Stunden, welche sie über den Feierabend arbeiten, Bezahlung zu fordern. – In unserer Familie geschah dies immer aus natürlichem Rechtsgefühl, ehe nur irgend von Emanzipation der arbeitenden Klassen die Rede gewesen war – wir mußten darüber Vorwürfe anderer wohlhabender Familien hören: wir verdürben die Schneidermädchen, indem wir sie verwöhnten – das Lied ist sehr alt. – Wenn diese Mädchen entlassen werden, so können sie sich im Sommer noch im Freien ergehen, in schlechter Jahreszeit für sich selbst arbeiten und ihr Los wird nicht unerträglich sein. Aber ich habe viele gekannt, die monatelang nicht vor die Stadt gekommen waren, weil sie bis in die Nacht bei den fremden Leuten aushalten mußten – auch nur, weil sie aus Bescheidenheit nicht zu sagen wagten: »ich will gehen« – was ihnen doch wirklich niemand verwehren konnte. Auch fürchtet immer eine jede: wenn ich zeitig gehe und andere bleiben, wird man mich nicht wieder wählen, sondern jene – und so bleibt sie aus Furcht, um sich selbst nicht zu schaden, zum Schaden aller. Hier ist gleich ein Fall, wo die Assoziation von Nutzen wäre, wenn die Schneider-Mädchen sich vereinigten und erklärten, daß sie nicht länger als von früh 8 Uhr an bis Abends 7 Uhr auf Arbeit gehen möchten.
Ich komme wieder zurück auf die große Konkurrenz der Näharbeit, die von den sogenannten höheren Ständen auf die niederen rückwirkt.
Die weiblichen Arbeiten werden auch von allen denen vorgezogen, welche es nicht wollen wissen lassen, daß sie einen Verdienst brauchen können. Die Lüge und Heuchelei herrscht einmal in unseren Zuständen. Jedermann will für reicher gehalten sein, als er ist, oder die »höheren Stände« halten es für ihrer unwürdig – zu arbeiten. Man kann kaum den einzelnen einen Vorwurf daraus machen, einem Unrecht, welches das Unrecht der ganzen Gesellschaft ist, sich zu unterwerfen – das ist nie zu oft zu wiederholen. Wenn die Frauen in den gebildeteren Ständen, denen man fast jedes Recht genommen hat – sogar auch das, für sich selbst zu sorgen, freiwillig oder von den Verhältnissen gezwungen, diese Sorge doch übernehmen wollen, so kommt dies den Leuten so wunderlich vor, daß es oft viel eher Schüchternheit und Furcht vor falscher Beurteilung, als Stolz und Dünkel ist, wenn diese Frauen nur in aller Stille sich etwas zu verdienen suchen, weibliche Arbeiten vornehmen, die sie zugleich oft, um nur eben etwas nebenbei zu verdienen, zu einem billigeren Preise herstellen, als sie es könnten, wenn sie ganz davon leben müßten. Die armen Mädchen, die in diesem Falle sind, sehen sich aber dadurch genötigt, um nur überhaupt Arbeit zu bekommen, sie noch billiger als jene zu liefern, und so erdrücken sie sich gegenseitig durch die Last der Konkurrenz.
An dem ganzen Elend ist doch nur die ganze verkehrte Erziehung, die gänzliche rechtlose Stellung der Frauen schuld. – Dürften sie mehr lernen und würden sie nicht nur auf die Ehe als ihre einzige Bestimmung hingewiesen, sondern würden sie vor allen Dingen gelehrt und würde ihnen Gelegenheit gegeben: sich selbst durchs Leben zu helfen und ihren Lebensunterhalt wenigstens so lange zu verdienen, bis ein geliebter Mann ihnen diese Sorge abnähme, indem er ihnen dafür eine heiligere und schönere Sorge auferlegte – nicht die für das eigene Leben, sondern für das Glück eines geliebten Gatten und hilfloser Kinder – so würde die Ehe aufhören zu einer »Versorgungsanstalt« herabgewürdigt zu werden; die Zahl der leichtsinnig und unüberlegt geschlossenen, der unglücklichen Ehen würde sich sehr vermindern – und dadurch auch die der verarmten Familien und verwahrlosten Kinder – und die Häuser der Prostitution würden nicht mehr von unglücklichen, sondern nur von verworfenen Frauen bewohnt werden.
Die Mädchen der sogenannten »höheren« Stände, welche voraussehen, daß mit dem Tode ihres Familienhauptes das bisherige sorgenlose Leben aufhört, die sich aber nie vorbereiten durften und keine Gelegenheit sahen, sich allein durchs Leben zu helfen, werden den ersten besten Mann heiraten. Ein solches Mädchen wird unglücklich machen und unglücklich sein – und [wie] eine Verbrecherin steht sie am Altar, wenn sie dem Liebe schwört, den sie vielleicht haßt, oder indem sie das Bild eines andern im Herzen trägt, den sie nicht heiraten konnte, weil er arm war.
Die Mädchen der untern Stände, welche dienen müssen, suchen auch einen Mann zu bekommen, nur »um es hernach besser zu haben«, da sie doch nicht zeitlebens dienen mögen – so geben sie sich oft leichtsinnig an einen armen Menschen hin, der die Braut oft verläßt, wenn sie ein Kind hat – oder das Paar wird getraut, und die unglücklichste Proletarier-Familie fällt bald der Gemeinde zur Last.
Die armen Mädchen aber, die sich daheim etwas verdienen müssen und von früh bis in die Nacht arbeitend nur 1 und 2 Ngr. verdienen können – vielleicht auch nicht genug Arbeit bekommen und alte Eltern und kleine Geschwister zu ernähren haben – sie, die vielleicht auch gehört, »die weibliche Bestimmung« sei die Liebe oder die Ehe – und nie eine Aussicht haben, sich zu verheiraten – sie werden leicht der Verführung zum Opfer fallen – – und dann gehet hin und werft den ersten Stein auf die, welche die eigene Verzweiflung und die Lüsternheit der Männer zur Prostituierten machte.
Das ist die Demoralisation unserer Gesellschaft! Ihr mögt dagegen noch so sehr eifern, ihr werdet sie nicht wegbringen können – solange ihr nicht die gesellschaftliche Ungleichheit in ihren fürchterlichsten Konsequenzen aufgehoben, solange ihr nicht die Arbeit organisiert habt. –
Wenn ihr aber nur die Arbeit der Männer organisiert und an die Arbeit der Frauen nicht denkt – so wird die Demoralisation dieselbe bleiben – wenigstens das bedenkt, wenn ihr nicht an die Rechte der Frauen denken wollt!
Ich aber werde an sie denken und euch zuweilen an sie erinnern!
Meißen
Louise Otto
Bücherschau [2]
Freischärler-Reminiszenzen. Zwölf Gedichte von Louise Aston. Leipzig. Verlag von O. Weller. 1850.
Wir sind es unsern Leserinnen schuldig, einige Worte über das vorliegende Lieder-Heft zu sagen – aber wir tun es ungern. Es tut uns leid, ein vielleicht begabtes weibliches Wesen im unreinen Element zu sehen – und doppelt leid, weil die Verfasserin sich mit zur demokratischen Partei zählt und wir von dieser Partei alle unreinen Elemente, mögen sie nun Männer oder Frauen mit sich bringen, fern gehalten sehen möchten.
Wir können uns bei Durchlesung dieser Gedichte von dem Eindruck des »Gemachten« im Gegensatz zur wahren Gesinnungsinnigkeit nicht losmachen; schon die Worte »Pferch-System«, »Problem«, »politisches Kapitel« u.s.w., berühren uns unangenehm und unpoetisch, man begreift nicht, wie sie beim begeisterten Dichten nur möglich sind. Saget nicht, die Zeit sei jetzt zu gewaltig, zu praktisch und tatenreich