Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
erst recht, wie es möglich war, die Spekulation und die symbolische Schriftauslegung eines Origenes in der Kirche zu dulden; aber auch in mehrern andern, die der werdenden und kämpfenden Kirche als Väter gegolten, erkennt man in der Folge halbe Ketzer. Von allzu verschiedenen Seiten her, allzu verschieden gebildet und aus allzu abweichenden Beweggründen traten die Katechumenen in die alte Kirche ein, als dass eine völlige Gleichheit der Lehre und des Lebens möglich gewesen wäre. Die idealen Menschen voll geistiger Tiefe und praktischer Hingebung waren gewiss die kleine Minderzahl wie in allen irdischen Dingen; die grosse Masse hatte sich angezogen gefühlt durch die in den Vordergrund gestellte Sündenvergebung, durch die verheissene selige Unsterblichkeit, durch das Mysterium, welches die Sakramente umgab und gewiss für manchen nur eine Parallele der heidnischen Mysterien war. Den Sklaven lockte die christliche Freiheit und Bruderliebe, manchen Unwürdigen endlich das sehr bedeutende Almosen, welches namentlich von der Gemeinde zu Rom in einem wahrhaft universellen Masse gespendet wurde261.
Die grosse Anzahl heldenmütiger Martyrien, welche von Zeit zu Zeit in der ausartenden Gemeinde die Spannkraft herstellen und eine immer neue Todesverachtung pflanzen, beweist viel weniger für die innere Vollkommenheit der Kirche als für den künftigen Sieg, der einer mit solcher Hingebung vertretenen Sache harrt. Der feste Glaube an einen sofortigen Eintritt in den Himmel begeisterte gewiss auch manchen innerlich unklaren und selbst gesunkenen Menschen zur freiwilligen Hingabe des Lebens, dessen Wertschätzung ohnedies in jener Zeit der Leiden und des Despotismus eine geringere war als in den Jahrhunderten der germanisch-romanischen Welt. Zeitweise herrschte eine wahre Epidemie der Aufopferung; die Christen drängten sich zum Tode und mussten von ihren Lehrern ermahnt werden, sich zu schonen. Bald werden die Märtyrer die leuchtenden Ideale alles Lebens; ein wahrer Kultus knüpft sich an ihre Gräber, und ihre Fürbitte bei Gott wird eine der höchsten Hoffnungen des Christen. Ihre Überlegenheit gegenüber den sonstigen Heiligen wird etwas Selbstverständliches; von allen Religionen hat keine mehr ihre einzelnen Blutzeugen so verherrlicht und damit die Erinnerung an ihr eigenes Vordringen so im Gedächtnis behalten wie das Christentum. Wo Märtyrer gelitten, da war klassischer Boden, und die Verfolgungen der frühern Imperatoren, zumal die des Decius, hatten dafür gesorgt, dass man überall solchen unter den Füssen hatte. Bei diesem längst bestehenden Brauch des Märtyrerkultus hatte dann die diocletianische Verfolgung gewiss von vornherein die allerschwersten Bedenken gegen sich.
Die Verfassung der Kirche zeigt um diese Zeit bereits die Anfänge einer eigentlichen Hierarchie. Zwar blieb den Gemeinden die Wahl der Geistlichen, oder wenigstens die Bestätigung, aber mehr und mehr schieden sich diese als »Kleros« von den »Laien« aus; es entstanden Rangunterschiede zwischen den Bischöfen je nach dem Rang ihrer Städte und mit besonderer Rücksicht auf die apostolische Stiftung gewisser Gemeinden. Die Synoden, welche der verschiedensten Ursachen wegen gehalten wurden, vereinigten die Bischöfe noch insbesondere als höhern Stand. Unter ihnen selbst zeigte sich aber schon im dritten Jahrhundert schwere Ausartung; wir finden manche von ihnen in weltlichen Pomp versunken, als römische Beamte, als Kaufleute, ja als Wucherer; das sehr grelle Beispiel des Paul von Samosate wird mit Recht als ein keineswegs vereinzeltes betrachtet262. Natürlich meldet sich neben der Verweltlichung auch der schroffste Gegensatz: das Zurücktreten aus Zeit, Staat und Gesellschaft in die Einsamkeit, das Eremitenwesen, dessen Ursprung uns nebst manchen andern der eben berührten Punkte noch insbesondere beschäftigen wird.
Eine grosse verbreitete Literatur, welche mehrere der ausgezeichnetsten neuern Geschichtswerke mit umfasst, gibt die Ausführung des obigen im einzelnen, je nach dem Standpunkte, welchen der Verfasser einnimmt und der Leser verlangt. Dass der unsrige nicht der der Erbaulichkeit sein kann, welcher zum Beispiel bei Neander seine gute Berechtigung hat, wird man uns nicht verargen.
Suchen wir nun in kurzem die wahre Stärke der christlichen Gemeinde beim Beginn der letzten Verfolgung uns zu vergegenwärtigen, so lag dieselbe also weder in der Zahl, noch in einer durchgängig höhern Moralität der Mitglieder, noch in einer besonders vollkommenen innern Verfassung, sondern in dem festen Glauben an eine selige Unsterblichkeit, welcher vielleicht jeden einzelnen Christen durchdrang263. Wir werden zeigen, dass die ganze Bemühung des spätern Heidentumes demselben Ziele zuging, nur auf düstern, labyrinthischen Nebenwegen und ohne jene siegreiche Überzeugung; es konnte auf die Länge die Konkurrenz des Christentums nicht aushalten, weil dieses die ganze Frage so unendlich vereinfachte. – Zweitens war hier dem politischen Bedürfnis der alten Welt, die seit der römischen Gewaltherrschaft an allem Staatswesen irre geworden, ein neuer Staat, eine neue Demokratie geboten, ja eine neue bürgerliche Gesellschaft, wenn sie sich rein hätte erhalten können. Viel antiker Ehrgeiz, draussen im Römerstaat ohne Stellung, bedroht, zum Schweigen gebracht, hat sich in die Gemeinden, auf die bischöflichen Stühle gedrängt, um wenigstens irgendwo etwas zu gelten; andererseits musste aber auch den Besten und Demütigsten die Gemeinde ein heiliger Zufluchtsort sein gegen den Andrang des verdorbenen, bald in Fäulnis begriffenen römischen Wesens und Treibens.
Diesen mächtigen Vorzügen gegenüber finden wir das Heidentum264 in voller Auflösung begriffen, ja in einem solchen Zustande, dass es auch ohne den Zutritt des Christentums kaum noch lange fortlebend zu denken ist. Nehmen wir zum Beispiel an, Mohammed hätte in der Folge seinen fanatischen Monotheismus ohne alle Einwirkung von christlicher Seite her zustande bringen können, so hätte das Heidentum am Mittelmeer dem ersten Angriff desselben so gewiss erliegen müssen als die Heidentümer Vorderasiens. Es war schon allzu tödlich geschwächt durch innere Zersetzung und neue willkürliche Mischung.
Die Staatsreligion des Kaisertums, von welcher ausgegangen werden muss, war allerdings der griechisch-römische Polytheismus, wie er sich durch die Urverwandtschaft und spätere Amalgamierung dieser beiden Kulte gebildet hatte. Aus Naturgottheiten und Schutzgöttern aller möglichen Lebensbeziehungen war ein wunderbarer Kreis übermenschlicher Gestalten erwachsen, in deren Mythus doch der antike Mensch überall sein eigenes Bild wieder erkannte. Die Beziehung der Sittlichkeit zu dieser Religion war eine überaus freie, ja dem Gefühl jedes einzelnen anheimgestellt gewesen; die Götter sollten zwar das Gute belohnen und das Böse bestrafen, allein man gedachte ihrer weit mehr als Geber und Hüter des Daseins und Besitzes denn als hoher sittlicher Mächte. Was die verschiedenen Mysterien dem Griechen noch ausser seinem Volksglauben gewährten, war nicht etwa eine reinere Religion, noch weniger eine weise Aufklärung für Eingeweihte, sondern nur ein geheimer Ritus der Verehrung, welcher die Götter dem Mysten besonders geeignet machen sollte. Eine wohltätige Wirkung lag in der wenigstens dabei ausgesprochenen Bedingung reiner Sitten, sowie auch in der Belebung des Nationalgefühls, welches hier wie bei den festlichen Spielen den Hellenen mehr als je begeisterte.
Dieser Religion gegenüber hatte die Philosophie, sobald sie sich über die kosmogonischen Fragen erhob, die Einheit des göttlichen Wesens mehr oder weniger deutlich ausgesprochen. Damit war der höchsten Religiosität, den schönsten sittlichen Idealen die Bahn eröffnet, freilich auch dem Pantheismus und selbst dem Atheismus, welche dieselbe Freiheit gegenüber dem Volksglauben in Anspruch nehmen konnten. Wer die Götter nicht leugnete, erklärte sie pantheistisch als Grundkräfte des Weltalls oder stellte sie, wie die Epikureer, müssig neben die Welt hin. Auch die eigentliche »Aufklärung« mischte sich in die Frage: Euhemeros und sein Anhang hatten schon längst die Götter zu ehemaligen Regenten, Kriegern usw. gemacht und die Wunder rationalistisch durch Betrug und Missverständnisse entstehen lassen; eine falsche Fährte, von welcher sich aber später die Kirchenväter und Apologeten bei der Beurteilung des Heidentums beständig irreführen liessen. – Diesen ganzen Gärungszustand hatten die Römer neben der griechischen Kultur mit übernommen, und die Beschäftigung mit diesen Fragen wurde bei ihren Gebildeten Sache der Überzeugung wie der Mode. Neben allem Aberglauben entwickelte sich in den höhern Schichten der Gesellschaft der Unglaube, mochten auch der eigentlichen Atheisten nur wenige sein. Dies hörte aber mit dem dritten Jahrhundert, unter der Einwirkung der grossen Gefahren des Reiches, sichtbar auf, und eine gewisse Gläubigkeit begann vorzuherrschen, die allerdings weniger der alten