Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
und die betreffende Superstition so stark gegründet265, dass sowohl der Ungläubige als der Fremdgläubige offiziell römisch fromm sein musste, sobald es sich um das heilige Feuer der Vesta, um die geheimnisvollen Unterpfänder der Herrschaft, um die Staatsauspizien handelte; denn die Ewigkeit Roms hing von diesen Heiligtümern ab. Die Imperatoren selber waren nicht bloss pontifices maximi mit bestimmten rituellen Verpflichtungen, sondern schon ihr Beiname Augustus bezeichnet eine übernatürliche Weihe, Berechtigung und Unantastbarkeit, und es ist keine blosse Schmeichelei, wenn der späteste Aberglaube ihnen den Rang von Dämonen zuwies266, nachdem bereits das Christentum ihrer seit dreihundert Jahren gebräuchlichen Apotheose, ihren Tempeln, Altären und Priestertümern ein Ende gemacht hatte.
Nun ist gar nicht daran zu zweifeln, dass auch diese echte griechische und römische Religion noch in der spätesten Zeit des herrschenden Heidentums bei vielen einzelnen nicht verdrängt war durch die fremden Gottheiten, nicht ersetzt durch Magie und Beschwörung, nicht verflüchtigt durch philosophische Abstraktion. Dies ist unmöglich direkt zu beweisen, weil die Verehrung der alten Götter die der neuen nicht ausschloss, und weil bei der weiter zu berührenden Götter- Verwechselung unter dem Namen eines alten Gottes ein neuer und umgekehrt verehrt werden konnte. Allein die Vermutung lässt sich kaum ablehnen, wenn man noch hie und da das alte naive Verhältnis des gesunden antiken Menschen zu Göttern und Schicksal mit überzeugender Kraft hervorbrechen sieht. »Dich verehre ich«, ruft Avienus267 der Nortia, der etruskischen Fortuna zu, »ich, den Vulsinii gebar, der zu Rom wohnt, zweimal geehrt durch das Prokonsulat, der Dichtung geweiht, schuldlos und unbescholten, glücklich durch mein Weib Placida und durch die starke, lebhafte Kinderschar. Das übrige mag sich erfüllen nach dem Gesetz des Schicksals.« – Bei andern behauptete sich wenigstens die alte Religion mit ihrer Weltanschauung sehr nachdrücklich neben den neuen Zutaten. Dieser Art mochte wohl der Glaube Diocletians sein, wenigstens ist er der etruskischen Haruspicin treu geblieben268, welche an seinem Hofe noch nicht wie später bei Julian im Kampfe liegt mit den neuplatonischen Beschwören; sein Schutzgott ist und bleibt Juppiter, und das Orakel, welches er in einer hochwichtigen Sache berät, ist das des milesischen Apoll. Seine Moralität und Religiosität, wie sie sich zum Beispiel in den Gesetzen ausspricht, hat wohl am meisten Aehnlichkeit mit derjenigen des Decius269; im Kultus der guten Kaiser270, namentlich des als Dämon verehrten Marc Aurel, schliesst er sich ausser dem an Alexander Severus an. – Hinwiederum darf man annehmen, dass manche Bestandteile und Konsequenzen der alten Religion bereits völlig abgestorben und vergessen waren. So gehörte vielleicht jene Masse kleiner römischer Schutzgottheiten für Bagatellsachen, so sehr sich auch die christlichen Schriftsteller271 darüber als über etwas Bestehendes empören, grösstenteils in das Gebiet der Antiquitäten272. Man gedachte schwerlich mehr beim Feuerherd des Gottes Lateranus, beim Salben der Unxia, beim Gürten der Cinxia, beim Baumstutzen der Puta, bei den Knoten der Fruchthalme des Nodutis, bei der Bienenzucht der Mellonia, bei der Hausschwelle des Limentinus usw.; denn eine ganz andere, verallgemeinernde Ansicht des Genien- und Dämonenwesens hatte sich seit langem der Gemüter bemächtigt. Vieles von jener Art war wohl ganz lokal römischer Glaube gewesen und geblieben. – Vollends bewahrte Griechenland noch in der Kaiserzeit mit Vorliebe seine örtlichen Kulte und Geheimdienste. Pausanias, welcher im zweiten Jahrhundert Hellas beschrieb, gibt mannigfach Zeugnis von der in jeder Stadt, jeder Landschaft besonders gestalteten Götter- und Heroenverehrung, nebst den verschiedenen Priestertümern, welchen dieselbe oblag; dass er die Mysterien beschweigt, war für ihn eine heilige Pflicht, für deren Übertretung ihm freilich die Nachwelt sehr dankbar sein würde.
Wie nun der römische Staat gewisser Sacra durchaus zu seinem Fortbestehen bedurfte, so dass man zum Beispiel bis tief in die christliche Zeit hinein das heilige Feuer durch die vestalischen Jungfrauen hüten liess, so hatte sich auch das Privatleben von der Wiege bis zum Grabe völlig mit den religiösen Gebräuchen durchdrungen. Im Hause schon gehörten Opfer und Schmauserei untrennbar zusammen; auf den Strassen der Städte begegnete man jenen teils schönen und würdigen, teils bacchantisch ausgelassenen Zügen und Aufführungen, welche den griechischen wie den römischen Festkalender füllen, und auch auf dem Lande war des Opferns bei Kapellen, Höhlen, Kreuzwegen und unter alten mächtigen Bäumen kein Ende. Der neubekehrte Arnobius erzählt, wie er als Heide Andacht empfunden, wenn er an Baumstämmen mit bunten Bändern umschlungen, an Felsblöcken mit Spuren des darauf gegossenen Öles vorüberging273. Es wird uns schwer, diesem gänzlich äusserlich erscheinenden, oft sehr frivolen Kultus den sittlich religiösen Gehalt abzugewinnen, und mancher wird ihn geradezu leugnen. Und erhebt sich nicht nach anderthalb Jahrtausenden über die Fest-Andacht des katholischen Südländers fast dieselbe Frage? Eine durchaus sinnliche Musik umrauscht das Hochamt und begleitet, von Kanonensalven unterbrochen, das Sakrament; ein belebter Markt, eine reichliche Zehrung, laute Freude aller Art und abends das unerlässliche Feuerwerk bilden den zweiten Teil des Festes. Wer daran ein Ärgernis nehmen will, dem kann es niemand wehren, nur vergesse man nicht, dass diese äussern Begehungen nicht die ganze Religion sind und dass die höchsten Gefühle in jedem Volke anders erregt werden wollen. Denkt man sich das christliche Gefühl der Sündhaftigkeit und der Demut aus der alten Welt, die dessen einmal nicht fähig war274, hinweg, so wird man auch ihren Götterdienst richtiger würdigen.
Das Detail der Mythologie, welches niemals Glaubenssache gewesen war, gab man freilich schon lange völlig preis, noch ehe Lucian daraus eine vergnügliche Posse gemacht hatte. Die christlichen Apologeten, welche eine Auswahl alles Schändlichen aus den verschiedensten Mythen zusammensuchen und durch Missverständnis und Vermischung des Ungleichartigen auch den Schein der Lächerlichkeit auf den alten Glauben überhaupt werfen, sind hierin nicht ganz aufrichtig; sie mussten wissen, dass die Anklagen dieser Art, welche sie aus den alten Dichtern und Mythographen schöpften, nur geringstenteils auf ihr Jahrhundert passten; mit demselben Recht könnte man zum Beispiel den Protestantismus für die Abgeschmacktheiten in manchen Legenden haftbar erklären. Das religiöse Bewusstsein der Massen hatte mit dem Mythus nicht mehr viel zu schaffen, es begnügte sich mit dem Dasein der einzelnen Gottheiten als Herrscher und Schützer der Natur und des Menschenlebens. Wie vollends die damalige Philosophie die Mythen zersetzte, wird noch besonders zu erwähnen sein. Aber die Heiden gaben der christlichen Polemik doch immer wieder die Waffen in die Hände durch die dramatische Darstellung einzelner, und zwar oft der anstössigern Mythen.
Denn ein Gebiet gehörte der Mythologie noch an, wo sie als Herrscherin bis in die späteste Zeit schaltete: das der Kunst und der Dichtung. Homer, Phidias und die Tragiker hatten einst die Götter und Heroen schaffen helfen, und nun lebte in Stein, Farbe, Maske, Schrift und Ton fort, was aus dem Glauben entschwunden war. Aber es wird mehr und mehr ein Scheinleben. Die Schicksale der bildenden Kunst und die Ursachen ihres Verfalls werden uns noch insbesondere beschäftigen; hier muss nur bemerkt werden, dass sie der alten Mythologie um so weniger zur Stütze dienen konnte, als sie in die Dienste der mythisierenden Philosophie und selbst der Fremdkulte trat. – Das Drama war grossenteils und vielleicht völlig verdrängt durch die Lokalposse (Mimus) und durch die schweigende Pantomime mit Musik und Tanz275, wobei jede religiöse Beziehung, die einst das alte attische Drama zum Gottesdienst machen konnte, von selbst wegfiel. Die Beschreibung des prächtigen korinthischen Ballettes »Paris auf dem Ida«, im zehnten Buche des Apuleius, belehrt uns, wie selbst in Griechenland zur Zeit der Antonine das Theater nur noch der Augenlust diente. Und hier dürfen wir wenigstens noch ein edel stilisiertes Kunstwerk voraussetzen, während in den lateinischen Gegenden des Reiches, zumal in den nur