Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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... das ist so ihr Stil."

      "Ohne Großvater?"

      "Ach, der ... der ist schon vor dreißig Jahren verschwunden. Es kam mal eine Karte aus Indien ... vor zwei, drei Jahren. Und die Eltern von Adrian leben nicht mehr. Die haben sich vor sechs Jahren umgebracht. Zwei Monate bevor Nnambala den Delta-Komplex gefunden hat!"

      "Ich kenne das nicht ... Delta-Komplex. Und wer ist Nnambala?"

      "Professor Nnambala ist ein Wissenschaftler aus ... Kenia, glaube ich. Er hat 2079 das Mittel gefunden, das mit dem HIV-Virus endgültig fertig wurde ... weißt Du, der Virus, der AIDS hervorgerufen hat ... eben den Delta-Komplex. Und die beiden hatten's. Sie haben nie darüber gesprochen, wo und wann sie sich angesteckt haben könnten, oder wer von wem. Es ist einfach passiert."

      "Deine Arbeit, das ist toll. Ich würde das gern mal sehen ... nicht im SenseNet, meine ich ... in echt." – hörte Joschi sich sagen, und es durchlief ihn heiß und kalt von seiner eigenen Unverfrorenheit. Er wusste ja, dass es nur ein Teil der Wahrheit war, dass er Angst hatte, Riss ... sie war im Begriff, in die Stadt zurückzufahren, und Axi hatte betont, wie selten diese Besuche waren ... nach diesem kurzen, hoffnungsvollen Anfang lange nicht wiederzusehen. Er hatte keine Ahnung, was er von ihr wollte ... außer sie zu sehen, in ihrer Nähe zu sein, ihren trockenen, leicht ironischen Ton zu hören, ihren frisch-scharfen Duft einzuatmen ... so wie jetzt ... ohne die geringste Vorstellung von einem Mehr. Es war pure Anziehung, einfach so da.

      "Hm ... das wird schwierig. Der Sender mag das nicht sonderlich. Und worauf du dich da einlässt, weißt du noch gar nicht. Versteh' mich nicht falsch; ich will nicht sagen, dass du zu jung bist ... aber du bist jung. Und in der Umgebung, in die ich beruflich gehe, ist das zwar nicht ungewöhnlich, aber das sind besondere Jungs und Mädchen ... Kinder von den Leuten dort ... oder die, die sich auf diese Weise durchschlagen. Außerdem fürchte ich, deine Eltern würden abkreischen, wenn sie das mitbekommen. Ich sag' dir was ... du kommst erst mal so vorbei. Mit Axi. Axi besucht mich ab und zu. Das fällt weniger auf, und ich zeig' dir dann ein bisschen was vom Leben ... offjob, ohne Camset. Du bist zwar noch ein kleiner Mann, aber du bist okay. Bleib so ... okay, meine ich."

      Es sollte einige Zeit dauern, bis er Riss wiedersah. In den ersten Tagen nach diesem Zusammentreffen gab es fast keinen wachen Moment, in dem er nicht an das gertenschlanke, halbnackte Mädchen mit der überwältigenden Ausstrahlung dachte. Doch langsam drängten sich andere Gedanken in den Vordergrund. Inzwischen ging er mit Axi in die Schule. Sein Vater hatte sich in die Arbeit gestürzt. Und auch seine Mutter hatte mit Bianca Kreutzers Hilfe einen Job gefunden. Mit ihren guten Deutsch-Kenntnissen half sie russischen Auswandererfamilien half, sich zurecht zu finden.

      Etwa drei Wochen später saß er in Axis Zimmer über seinen Schulnotizen und einem grausig umständlich gestalteten Ökotechnologie-Lernprogramm, als Johanna Kreutzer wutentbrannt und ohne zu klopfen hereinmarschiert kam.

      "So, meine Freundchen, jetzt hab' ich endgültig die Nase voll von euch beiden kleinen Wichsern! Nicht nur, dass ich mir von meinem eigenen Neffen seit Wochen und Monaten diese Frechheiten anhören muss ... und nicht nur, dass meine Verwandten es vorziehen, sich mehr um irgendwelche Gäste zu kümmern als um ihre eigenen Angehörigen ... jetzt werden hier auch noch meine Kinder belästigt!"

      Joschi saß verdattert auf seinem Stuhl und beobachtete den Auftritt der Frau eher mit irritierter Neugierde als beeindruckt oder eingeschüchtert. Mit ihren Kindern ... Antonia, Tony gerufen, war sieben, Theresa beziehungsweise Terry war neun ... hatte er bisher kaum Kontakt gehabt. Ihr Raum, ein kleines Mansardenstübchen, lag ein Stockwerk höher, und wenn sie im Garten spielten, geschah das in der "Kinderecke" am Sandkasten. Zu den Hauptmahlzeiten waren sie selten mit am Tisch. Ihre Eltern ließen sie kaum aus dem Haus und immer noch nicht in die Schule gehen ... obwohl Adrian und Bianca mehrfach angedeutet hatten, dass das Ärger mit irgendwelchen Behörden geben konnte. Offenbar wurden sie auch so weit wie möglich vom Familienleben ferngehalten ... was im Alltag wenig auffiel, da sich Adrian und Bianca unter einem Familienleben ohnehin alles andere als eine umarmungs- und sammlungssüchtige Gluckenwirtschaft vorstellten.

      "Was immer ihr Euch hier einbildet, was normal ist ... oder in Russland, wo es anscheinend auch schon jede Sauerei gibt," schäumte Johanna weiter, "ich erziehe meine Kinder, wie ich es für richtig halte, und ich werde nicht dulden, dass sie von dem Schmutz angesteckt werden, den ihr hier verbreitet! Schlimm genug, dass sie jeden Tag im Garten diese lüsternen Nachbarn sehen müssen, dieses abartige 'Conglobat', wo ständig jeder mit jedem ... wie auch immer: Ich will, dass meine Kinder anständig aufwachsen. Wenn ich also noch einmal höre, dass ihr eure Perversitäten abzieht und meine Töchter damit belästigt, werde ich euch persönlich mal zeigen, was wir in Australien unter einer anständigen Erziehung verstehen!"

      Joschi dämmerte, was passiert war. Vor einigen Tagen waren alle Erwachsenen zu einer Party eingeladen gewesen ... genaugenommen die Journalisten Adrian, Yelmaz und sein Vater mit Partnerinnen. Gert und Johanna hatte man ohne große Lust mitgenommen ... mit dem Erfolg, dass Gert sich am nächsten Tag lang und breit über die verkommenen Ansichten ausließ, die er bei der deutschen Presse im allgemeinen und Adrians Freunden im besonderen vorgefunden hatte.

      Axi und Joschi hatten nachts im Pool gebadet ... nackend, versteht sich ... und anschließend auf einer Luftmatratze ein wenig miteinander herumgealbert ... im Dunkeln und an einer Stelle, die man vom Fenster des Mansardenstübchens gewiss nicht sehen konnte. Einmal war es Joschi vorgekommen, als ginge der Lichtschein einer Taschenlampe durchs Haus. Aber die beiden Jungs hatten Angenehmeres zu tun, als auf herumgeisternde, kleine Mädchen zu achten.

      "Das würde mich jetzt aber interessieren," klang aus dem Korridor hinter Johanna die Stimme seines Vaters auf – laut und mit einem zornigen Unterton, den er bislang nur ein- oder zweimal in seinem Leben gehört hatte. "Was verstehst du denn unter australischer Erziehung? Ich will doch wohl nicht annehmen, dass du gerade versuchst, meinen Sohn zu bedrohen!"

      Sein Vater schob sich in den Türrahmen ... massig und konfrontationsbereit. Johanna wich einen Schritt zurück, weiter in den Raum hinein.

      "Dein Sohn soll es lediglich unterlassen, meine Kinder zu belästigen."

      "Tut er das? Tust du das?"

      Joschi schüttelte langsam den Kopf.

      "Er tut es nicht," stellte sein Vater mit nun wieder ruhiger Stimme fest. "Was soll also dieser Auftritt?"

      "Ja, du glaubst ihm natürlich sofort. Frag ihn doch mal, was er so treibt ... mit diesem sauberen Knaben, der mein Neffe sein soll ..."

      Joschi saß wie erstarrt. Natürlich hatte er keine kleinen Mädchen belästigt. Aber was er mit Axi getan hatte, würde sein Vater vielleicht auch nicht gut heißen.

      "Jetzt bist du hier, und da du hier Beschuldigungen erhebst, fordere ich dich auf, es selbst zu erklären. Hier und jetzt!"

      "Das wirst du kaum wollen ... dass wir hier über diese ... diese ... Sachen reden, die sich meine Kinder anschauen müssen ... wie diese ganzen Sauereien hier überall ... diese Nackten und Perversen ..."

      "Jetzt hör mir mal gut zu! Ich respektiere deine Probleme. Und wie du deine Kinder unter eine Glasglocke steckst, ist das auch deine Sache ... obwohl es in meinen Augen unverantwortlich ist, Kinder auf diese Weise einzusperren und von der Außenwelt fern zu halten. Aber was immer du und die armen Kleinen zu sehen bekommen haben ... gewöhn dich besser an den Gedanken, dass es dasselbe Existenzrecht hat! Wenn mein Sohn und Adrians Junge ... ich kann mir denken, worum es geht, und ich halte es für völlig harmlos ... wenn die beiden sich gern haben und ein bisschen was ausprobieren, dann sollen sie das von mir aus! Meinen Segen haben sie.

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