Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth
selbst geborgen sein sollte, in der Aura seiner Macht, seiner Leistung und der Anerkennung der anderen. Doch all das ist abgeblättert von ihm auf der Höllenfahrt im umgebauten Benzintank. Wiedergeboren wurde nur der nackte Mensch, ein Embryo, als sie ihn befreiten, und hier wächst die erste neue Haut.
Hatte er davon geträumt, so herausgerissen zu werden, während er in Straßburg endlos, sinnlos seine Arbeit verrichtete ... eine Qual, die sich Regieren nannte ... mit Agonie als neuer Staatsform? Im Vergleich dazu ist die Verantwortungslosigkeit des Geiselseins befreiend, berauschend ... er lächelt glücklich in die staubige Wärme ... Leben am Ohr von unten aus dem großen Hof, dem Mehringhof, hallendes Hundegebell, verzerrte Kinderstimmen, die einen Reim herauf singen. Sind Geiseln nicht immer bereit, sich zu identifizieren – als Überlebensreflex, Stockholm-Syndrom genannt?
Er blinzelt. Neben ihm, einige Meter entfernt, tanzen Staubteilchen in flachen, goldenen Strahlen, die durch die schadhaften Läden hereinbrechen. Später Nachmittag, der Zenit der Hitze, Zeit zum Aufstehen. Zeit für Entdeckungen. Wofür ist er schließlich hier? Die Erinnerung bricht sich Bahn. Schon einmal in seinem Leben wurde er in eine fremde Welt gestoßen. Schon einmal siegten Neugier und Abenteuerlust in ihm über den Schrecken, alles Vertraute verloren zu haben.
Kapitel III – 2091
Die zweite Nacht im Anderswo. Axi und er mussten zusammenrücken im unteren Stock des Etagenbetts, weil Riss da war. Wie erstarrt hatte er die Nachricht aufgenommen. Dieses Mädchen, deren Anblick ihm jeden Gedanken raubte, würde im selben Raum mit ihm schlafen!
Und sie gab sich keine Mühe, ihn zu schonen. Axi und er lagen schon im Bett, als sie herein kam. Auch der Umgang zwischen Bruder und Schwester schien so tabulos wie das Verhalten der meisten hier in dieser fremden Welt. Ohne Zögern schälte sie sich aus ihrer Kleidung ... Citydschungelmode, viele Teile stammten eher aus einem Metallwarenladen als aus dem Textilhandel ... und stieg splitternackt an Joschis mühsam halb abgewendeten Augen vorbei in das obere Bett. Sehr weiblich war ihre Figur nicht, eher hager, mit festen Muskeln, flachen Brüsten und einer schmalen Hüfte.
Zurück blieb ein unordentlicher Haufen ... ein Paar dicksohlige, metallbeschlagene Stiefel, eine klobige Jacke mit allerhand metallischen Aufsätzen wie einer Schiene am linken Unterarm, die für eine bloße Zierleiste deutlich zu stark und scharfkantig wirkte. Daneben lag irgendwelches Riemenzeug, nietenbesetzte Lederbänder oder -gürtel, mit kleinen Taschen und breiten, verschrammt silbrigen Schlössern.
Wieder stand sein Frühstück am nächsten Morgen auf dem Esstisch. Doch er aß kaum und unaufmerksam. Nur wenige Meter neben ihm saßen Riss und seine Mutter bei Kaffee und Keksen in den Sesseln. Joschi hatte seine Mutter schon immer für recht locker gehalten. In vielen Punkten war sie deutlich liberaler als die meisten anderen Mütter, die er in Nikopol kennengelernt hatte. Dennoch war er erstaunt, wie gut sie mit ihrem Gegenüber klarkam ... ein Erstaunen, das mit Erregung verschmolz, wenn er jenes Gegenüber betrachtete ... schlank, braungebrannt, lässig in die Seitenlehnen des Sessels gehängt und mit nichts als einer halblangen, grauen Hose bekleidet.
Frauen mit nacktem Oberkörper gehörten nicht zu seinen Alltagserfahrungen. Wo sie in der Ukraine in Bädern oder Parks zu sehen waren ... inzwischen häufiger als noch vor wenigen Jahren ... fehlte ihnen immer noch das fast aggressive Selbstbewusstsein, das Riss dabei ausstrahlte.
"Und damit lässt sich Geld verdienen?" fragte seine Mutter im Ton freundlichen Interesses, als er den Raum betrat.
"Glauben Sie nicht, dass das immer so einfach ist. Die Leute, die sich Reportagen wie meine reintun, sind zwar nicht so besonders anspruchsvoll, was die Abwechslung betrifft ... und extremere Themen kann ich jederzeit ablehnen, dafür gibt es andere Kanäle ... aber ich muss mir dauernd was einfallen lassen. Wissen Sie, das mit der Interaktivität ist doch alles nur theoretischer Papp. Die meisten hängen im SenseNet, wie unsere Großeltern vor ihren Glotzkisten hockten. Die meisten, die sich so einen Partykanal reinholen, haben Probleme mit ihrer Umwelt. Oder Angst vor Menschen ... oder was weiß ich. Die wüssten gar nicht, was sie interaktiv machen sollten."
Riss jobbte als "Auge" für einen interaktiven Kanal ... Merlin-TV ... in dem weltumspannenden Datennetz, dem SenseNet, das das Internet abgelöst hatte. Die Schnittstelle war ein direkt ins Gehirn implantierter Transmitter, Bindi-Jack genannt, und konnte komplexe Sinneseindrücke übertragen. Merlin-TV bot den Nutzern die hautnahe Teilnahme an Partys und Festen aller Art ... Nutzern, die oft voller Angst vor der bedrohlichen Masse ihrer Mitmenschen in ihren komfortablen Wohnzellen saßen, statt sich real ins Getümmel zu stürzen. "Augen" ... und Ohren und Münder ... wie Riss waren ihre Stellvertreter, Voyeurismus ihre einzige echte Freude.
"Was wird denn da so von Ihnen verlangt?"
"Ach ... nichts Großartiges! Meistens rumlaufen, umschauen, hübsche Frauen und Typen ins Bild holen ... erstaunlich selten das Ansprechen ... "
"Und die Menschen machen da so einfach mit?"
"Wieso nicht? Ich hab mehrere Kurse in Interviewtechnik gemacht. Und wenn das Netz mir meldet, dass eine ausreichende Zahl von Teilnehmern mit jemandem sprechen möchte, heißt das ja noch nicht, dass ich die gewünschte Zielperson mit deren blöden Fragen vollquatsche. Die meisten freuen sich auch, wenn ich sie anspreche. Immerhin sind sie dann der Star ... für zwei, drei Minuten."
"Ist das nicht schrecklich unpersönlich ... ich meine, für Sie ... nur so mit dieser Maschine auf ihrer Schulter und ferngesteuert aus dem Netz?"
"Woher denn ... das ist ein Job, sonst nichts! Haben Sie mal alte Aufnahmen aus dem zwanzigsten Jahrhundert gesehen? Die Kameraleute damals mussten monströse Dinger mit sich herumschieben, die keine fünf Leute hätten wegheben können. Mit unserem Camset bin ich absolut beweglich ... keine Kabel, keine separate Toneinheit, kein Nachstellen von Licht, alles in-time, live, sofort und hundertpro unabhängig ... nur das reine Leben, sonst nichts! Der Unterschied zu früher ist, dass damals ein Regisseur entschieden hat, wie sich die Kameras bewegen sollten. Heute sind es die Nutzer. Oft macht da auch nur einer die 'Regie', und die anderen bleiben passiv."
"Und wenn sich dabei jemand vergisst? Von den Leuten, die Sie aufnehmen, meine ich. Betrunken ist und zu pöbeln anfängt? Oder irgendjemanden bedroht oder beschimpft? Wie reagieren Sie auf solche Menschen?"
"Zuerst einmal scann' ich das vorher. Wer schon glasig vor sich hinstarrt oder beim Kontakt sofort rumlallt, den nehme ich sofort wieder aus dem Programm. Aber Sie haben recht, manchmal merkt man erst zu spät, dass jemand nicht mehr klar ist. Oder ... das ist eigentlich das Unangenehmste ... jemand kommt mittendrin auf einen Psychotrip, will sich umbringen, heult los oder erzählt endlose Dummheiten. Wenn es interessant genug ist, muss ich das aushalten. Dann signalisieren die Nutzer meistens 'dranbleiben'. Schließlich ist es die Realität, und die Leute sind bei uns, weil sie genau das suchen ... Menschen und Erlebnisse ... aber ohne das Risiko, selbst rausgehen zu müssen. Wenn es langweilig wird, gehe ich einfach weg. Und im übrigen habe ich auch das Recht zu unterbrechen. Dann wird automatisch irgendeine Werbung reingeschnitten und, falls es länger dauert, der Dauerstream."
"Allzu oft passiert Ihnen das aber nicht, oder? Jedenfalls machen Sie nicht den Eindruck, als seien Sie eine ... hm ... unbeholfene Diskussionspartnerin."
Weshalb war seine Mutter zu Riss so ungewöhnlich zuvorkommend? Da war mehr als die Absicht, sich als guter Gast darzustellen. Valeria Silajevs normale Höflichkeit war distanzierter. So unwahrscheinlich es klang ... seine Mutter schien von Riss kaum weniger fasziniert als er selbst.
"Sie machen mir ja richtige Komplimente!" – lachend.
"Klingt das so? Nun ja ... ich finde eben, dass Sie ... wenn ich daran denke, was ich über den Westen weiß ... trotz all dieser Sendungen, wie Sie auch eine machen, ist das ja nicht allzu viel ... wahrscheinlich eher Vorurteile ... dass Sie offenbar eine ganz andere Einstellung zum Leben haben, als ich erwartet hätte ... ernsthafter, wenn ich das so sagen darf."
"Was hatten Sie denn erwartet? Dass ich ständig im SenseNet hänge und mit den Kids 'Torture-Town' spiele? Oder so was wie ein Brush-Girl, die sich mit ihren Freundinnen jeden Abend Farbe ins Gesicht bläst und in den Clubs abhängt? Aus diesem Alter bin ich lange raus. Abgesehen davon, dass mir kein Gramm