Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth
und Osten durch das Tote Land, im Norden und Westen durch die Ostsee und den großen Elbebusen. Was war dort? Irgendwann vor 200 Jahren war es schon mal für einige Zeit ein eigener Staat gewesen. Jetzt war es Sumpf oder Dschungel oder Steppe ... die neue Landkarte der Erde war voller weißer Flecken.
Joschi Silajev war Mitglied des Führungsgremiums der ... neben dem Reich der Mitte ... am besten organisierten Gemeinschaft auf diesem Planeten. Und er hatte keine Ahnung, wie es unmittelbar jenseits der Grenzen seines Landes aussah! Er erinnerte sich, dass diese Zone, das Tote Land und viele andere Gebiete nominell zur Union gehörten. Regelrechte Grenzen waren nach der Katastrophe nie gezogen worden. Man beanspruchte, was man eben beanspruchen konnte und was bewohnbar war.
Äußerlich ruhig lag er auf dem Bett. Über den frappierenden Informationsmangel nachzudenken, lenkte ihn von der Erinnerung an die Entführung ab, dem Massaker, der Angst, der Folter der Fahrt in dem verschlossenen, flachen Kasten. Doch er war ehrlich zu sich. Er begann, sich auf dieses Abenteuer zu freuen! Und wenn er schon ehrlich war: Diese Frauen faszinierten ihn. Sie waren von der Art, die ihn schon immer fasziniert hatte. Sie hatten Energie, Humor, Lebenslust, Ausstrahlung. Sie hatten alles, was man heute bei Menschen nicht mehr fand.
Er selbst stand in der Europäischen Union an der Spitze einer Macht, die nur noch Ohnmacht war. Die Macht über ein Gräberfeld. Er hatte retten, aufbauen wollen, doch die Große Katastrophe war auch jetzt noch stärker ... heute nicht mehr das große Sterben, das völlige Umkippen der Natur des ganzen Planeten in eine lebens- ... nein ... menschenfeindliche Welt ... doch sie hatte auch den Überlebenswillen verändert. Die Natur hatte den Menschen satt. Je nach Rechnung 10, 20, 30 Jahre pausenlosen Sterbens. Einer rapide um sich greifenden Unbewohnbarkeit. Vollzug des jüngsten Gerichts. Keine Urteile mehr, nur noch Hinrichtungen.
Die Überlebenden und die wenigen, die noch geboren wurden und aufwuchsen, waren anders. Es gab keine Zukunft mehr, keine Hoffnungen oder Pläne. Die Restmenschheit lebte auf Abruf ... auf einem Planeten, der sich einmal unter ihr kurz geschüttelt hatte. Die Menschen brauchten keine Regierungen mehr. Es gab nichts mehr zu regieren. Sie hatten sich aus Gewohnheit eine Repräsentanz geschaffen, zu der sie aufschauen konnten. Regierung war ... das galt für alle übrig gebliebenen Regierungen außer vielleicht der des chinesischen Reichs ... ein musealer Akt, ein historisches Possenspiel in schlechten Kopien teurer Kostüme.
In Straßburg war er wichtig ... ein unentrinnbares, lähmendes Schicksal, verbrämt mit einem Schein von Macht. Er wusste seit langem, dass er dort nur noch unglücklich war. Hier war er Opfer, Geisel, machtlos ... und dennoch war hier etwas, das er dreißig Jahre lang vermisst hatte. Er fühlte sich wohl bei diesen Frauen ... ja, befreit. Nicht nur aus den Händen der Nazis, sondern befreit auch von dem traurigen Geschäft, das Sterben der menschlichen Zivilisation zu verwalten. Falls nicht doch die Triaden dahintersteckten, durfte er ... wenn diese Frauen typisch waren für die Gesellschaft, aus der sie kamen ... auf Berlin gespannt sein ... auf eine Oase in dieser sterbenden Welt!
"Oh, ich dachte, du schläfst."
Es war Kandy. Sie war leise hereingekommen, um ihn nicht zu wecken. Er konnte sich gerade noch ein Lächeln verkneifen.
"Wir haben von den Mönchen etwas zu essen bekommen. Willst du was?"
"Ja, gerne. Aber ... Mönche? Bin ich jetzt etwa Geisel der Kirche?"
Sie lachte auf: "Du machst dir Gedanken!" Sie trat dicht an sein Lager. "Du bist keine Geisel," fuhr sie leise fort. "Hab nicht so viel Angst!"
Sie beugte sich vor und strich mit dem Rücken einer schmalen, kräftigen Hand über seine Wange. Auch wenn er körperlich fern jeder Erregung war, konnte er seinen Blick nicht von ihren Brüsten abwenden, die ihm voll und rund entgegen schwangen. Sie bemerkte seinen Blick.
"Gefallen sie dir?"
Seine Stimme war zu belegt, um zu antworten. Seine Augen wanderten zu ihren. Nun lächelte er doch.
"Du wirst sehen ... es wird alles gut!" sprach sie sanft auf ihn ein wie eine Mutter, die ihren Sohn tröstet. Eigenartig, wie leicht eine Frau, die allenfalls Mitte zwanzig war, in diese Rolle schlüpfen konnte, selbst für einen Mann in seinem Alter! Vielleicht war es auch die Wirkung der beiden unübersehbaren Attribute, die dicht über ihm pendelten ...
Sie ergriff seine Hand, zog sie empor, und legte sie leicht an die eine Brust.
"Mach nur! Es wird dich entspannen!"
"Ich ..." – krächzend. Er räusperte sich. "Sie sind wirklich ... Sie ... Sie sind hübsch, doch! Aber Sie machen sich über mich lustig, oder?"
"Nein!" Sie streichelte wieder seine Wange. "Wirklich nicht! Verstehst du, wir mögen dich ... alle. Uns wurde ... einiges über dich erzählt. Und es tut uns leid, dass das am Anfang nicht besser für dich lief ... und für deine Leute!"
"Hätten Sie es nicht verhindern können?"
"So einfach war das nicht! Wir ... also Susie und die anderen ... mussten erst mal herkommen, ohne dass jemand was merkt. Das ging alles wahnsinnig schnell. Natürlich ... wir hätten versuchen können, euch zu warnen. Aber hättest du uns geglaubt ... einer Truppe durchgeknallter Weiber, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen?
"Zumindest hätten wir den Nazis das Handwerk gelegt."
"Das denkst du! Aber hast du mal darüber nachgedacht, woher die Idee kam ... dich zu entführen ... ursprünglich, meine ich?"
Zuerst hatte er eine rasche Antwort auf der Zunge, doch dann kam er ins Grübeln. Gedankenverloren streichelte er weiter die wunderbar runde, weiche Brust.
"Gut, sagen Sie's mir! Woher kam die Idee? Oder genauer gefragt: Wie lautet Ihre Version?"
"Ha! 'Version'! Das ist keine Version. Wir wissen es auch nicht genau. Wir wissen nur, dass irgendjemand aus deinem Verein dahinter steckt. Aus dem Rat. Und diese Leute auf uns aufmerksam zu machen, wäre das Letzte, was wir gebraucht hätten. Das war der Grund, weshalb wir es so gemacht haben. Jetzt wissen die nur, dass irgendetwas gewaltig schief gelaufen ist."
"Irgendjemand wird die Wahrheit rauskriegen. Zumindest diese geheimnisvollen Unbekannten, die angeblich hinter den Nazis steckten ... obwohl ... ein kleines Stück weit glaube ich Ihnen. Die Nazis sind zwar gut ausgerüstet, aber viel zu beschränkt, um sich an etwas so Großes zu wagen wie den Rat. Eine solche Aktion kann nicht allein auf diesem braunen Mist gewachsen sein."
"Siehst du!" Sie beugte sich vollends herab und küsste ihn auf die Stirn. "Du bist gar nicht so dumm. Mit ein bisschen Hilfe ..."
Ihre Brüste drückten nun auf seinen Brustkorb. Durch das dünne Tuch spürte er die Warzen. Er hatte die Hand zurück gezogen und streichelte ihren Oberarm. Es war verrückt! Diese Frau mochte sich immer noch als Gegnerin entpuppen, und sie konnte seine Tochter, fast seine Enkelin sein. Dennoch genoss er die tröstliche Zuwendung, die längst nicht mehr mütterlich war! Er war im Begriff, sie vollends zu umarmen und an sich zu ziehen ... sie schien das für völlig in Ordnung zu halten, kein Muskel spannte sich zur Abwehr ... als eine Stimme hinter ihnen aufklang.
"Kandy!"
Es war die große Frau mit dem dunkelroten Bubikopf. Kandy blickte auf.
"Is ja schon gut! Ich hab den armen Kerl nur ein wenig getröstet."
In jeder anderen Situation wäre Joschi beleidigt gewesen. Als 'armer Kerl' ließ er sich nicht gern bezeichnen. Allerdings hatte das in den letzten drei Jahrzehnten auch niemand mehr versucht. Nun jedoch tat ihm nur noch die Unterbrechung leid ... auch wenn er sich schmerzlich bewusst war, dass er absolut nicht in der Lage gewesen wäre, die Situation "auszunutzen". Die Rothaarige zog Kandy an der Schulter nach oben.
"Entschuldige, Silajev! Sie hätte das nicht tun sollen. Wir wollen dich nicht 'verführen'. Vergiss es bitte, wenn du kannst."
***
Er ist im Mehringhof. Ein riesiger, uralter, verwinkelter Gebäudekomplex ... schattige Höfe unten, hinter den hohen Fenstern und geschlossenen Jalousien. Es riecht nach sauberem Staub und alten Dingen, die warm geworden sind. Trocken und warm. Der Geruch von Sonnenhitze. Plötzlich