Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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das Spandauer Tor am 2. Ring. Der Himmel ist orange wie damals. Licht, keine Flammen ... nicht die Fackeln der ersten SA, der brennende Reichstag, die Stadt im Bombenhagel, nicht die Brände von Kreuzberg, Marzahn, Klein-Ankara während der Ghettokriege, nicht die lodernden Kiefernwälder der Mark aus der Zeit der Großen Katastrophe ... Flammen der Beschämung, Flammen eines Feuers, das ... wie man in Straßburg, Damaskus oder Brasilia glaubt ... nur noch die Chinesen entzünden können.

      "Ich kann's nicht glauben! Ein Europäischer Rat ... und weiß nicht, dass Berlin seit fast sechzig Jahren über funktionierende Fusionsreaktoren verfügt!"

      "Ich weiß." Joschi hat feuchte Augen. "Es ist ... eine Art von Schwäche. Wir können nicht mehr richtig denken. 'Die Zone ist die Zone, und damit Schluss' ... das ist die Haltung bei uns. Es kommt niemand mehr auf die Idee, zu überprüfen, ach was, darüber nachzudenken, was es anderswo gibt ... in den Gebieten, mit denen wir nichts mehr zu tun haben wollen. Afrika, Indien, Russland ... nichts. Dabei spüre ich langsam, weshalb ihr mich geholt habt. Die Jüngeren bei uns können nicht einmal mehr das Problem erkennen: Europa ist groß', sagen sie. 'Und uns geht's doch noch gut!' Dann starren sie wie gebannt nach China, ohne einen Finger zu rühren. Und freuen sich wie die Kinder, wenn mal ein Bröckchen unter den Tisch der Triaden fällt."

      "Mensch, Silajev, Du wirst ja richtig melancholisch."

      "Wenn wir uns schon duzen ... nenn mich Joschi, bitte."

      "Ach, Silajev ... nimm's mir nicht übel, aber nicht auf die Tour! Ich werd' mich nicht hier auf der Berliner Heerstraße mit dir verschwistern, kurz hinter dem Spandauer Tor. Nee nee. Lassen wir's bei Silajev. Oder denkst du, ich heiße wirklich Tom?"

       "Ich weiß seit fünf, sechs Tagen nicht mehr, was ich denken soll."

       "Dann entspann dich noch ein bisschen. Wir sind fast da, und ich schätze, du wirst ne ganze Menge zu denken bekommen in nächster Zeit."

      ***

      "Wir sind keine Nazis," versicherte Susie ihm.

      Susie war fast zwei Köpfe kleiner als er ... eine fröhliche, energische Frau Mitte Dreißig, mit schulterlangen, blonden Krauslocken, einem ironischen Zug um die Mundwinkel und einer rechten Braue, die sich wie mit einem eingebauten Kulissenzug dramatisch hob und senkte ... gekleidet wie alle in die Pseudouniform aus groben, dunkelgrauen Stoffhosen und festen, hoch geschnürten Kampfstiefeln. Oben trug sie ... Joschi war unklar, ob als Zeichen ihres Ranges oder aus praktischen Gründen ... eine ärmellose Weste, die ein gut bestücktes Materiallager zu enthalten schien. Die Weste war offen, und darunter war Susie ebenfalls gut bestückt. Doch Joschi war nicht in der Verfassung, sich davon ablenken zu lassen.

      "Was denn sonst!" antwortete er heiser und ohne rechte Überzeugung.

      Er glaubte es selbst nicht mehr. Doch er wollte etwas über diese Frauen erfahren ... zu viert standen sie in der kleinen Klosterzelle um ihn herum ... und sein leicht provozierender Unglaube schien ihm dazu momentan die beste Taktik. Sie war auch die einzige, die ihm in seinem Zustand einfiel.

      "Wir sind keine Nazis. Glaub's oder lass es. Außerdem" – die Braue stieg – "du weißt das auch."

      Das saß. Der Politprofi erwachte nun vollends in ihm und warnte ihn, diese Frauen wie gewöhnliche Bürgerinnen der Union zu behandeln. Sie waren fremd ... weit fremder, als er der äußere Eindruck glauben machte. Doch Verstellung gehörte zu seinem Handwerk. Er bemühte sich, irritierter und ahnungsloser zu wirken, als er war. So verrieten sie ihm vielleicht vor lauter Ungeduld mehr, als wenn sie ihn für ein schlaues Kerlchen hielten.

      "Gar nichts weiß ich!" fuhr er auf. "Ich bin von einer Horde Nazis entführt worden. Ich wurde misshandelt und eingesperrt. Meine Begleiter wurden bestialisch und ohne Gnade ermordet. Oder wollen Sie das etwa leugnen? Haben Sie die Nazis nur als Helfer benutzt? Oder stecken Sie mit denen sowieso unter einer Decke?"

       "Nichts davon! Oder sehen wir so aus, als hätten wir so eine Sauerei anrichten müssen, um uns einen wie dich zu holen?"

      "Also, Frau Susie, ich durchschaue vielleicht nicht, was hier gespielt wird. Aber ich bin entführt worden, das steht wohl fest! Und nun stehen Sie hier vor mir, und ich bin gewiss nicht freiwillig hier, das steht ebenfalls fest. Wobei ... was Sie Sauerei nennen, nenne ich brutalen, feigen Mord ... doch ohne diese Morde wäre auch niemand, ob Nazi oder nicht, an mich herangekommen."

      "Glaubst du" – die trockene Antwort.

      "Susie, bitte!" klang eine raue Stimme auf.

      Joschi hatte sie schon beim Öffnen seines Sarges gehört. Zuerst dachte er, es sei ein Mann ... jemand, den sie Tom nannten. Doch Tom war eine ... allerdings sehr männlich wirkende ... drahtig schlanke Frau.

      "Schon gut," fuhr Susie fort. "Wir haben dich, um es mal so zu sagen, den Nazis entführt. Abgejagt. Und genauso elegant hätten wir dich auch sonst wo rausgeholt ..."

      "Obwohl auch bei uns ein Nazi abgejuckt is'," warf seine freundliche Pflegerin der ersten Minuten respektlos ein.

      Sie schienen eine feste, eingespielte Truppe zu bilden, und Susie war die Anführerin. Sonst konnte Joschi nichts entdecken, was sich mit herkömmlichen militärischen Umgangsformen vergleichen ließ. Sie standen neugierig, zwanglos und gleichberechtigt um sein Bett, und jede sagte, was sie für richtig hielt.

      "Ein Nazi!" Tom machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ein Söldner, ein Soldat, ein Büttel. Ich sag' nicht, dass er kein Mensch war ... aber ein Mensch mit dem Job, seine Eier hinzuhalten. Wenn Kämpfer sterben, ist das kein Berufsrisiko. Es gehört zu dem Beruf dazu! Ich meine, Kandy, das wissen wir doch selbst auch am besten ... dass Kämpfen ein Scheißjob ist. Man muss es manchmal machen, aber man darf es nicht verklären ... sonst sind wir rasch wieder auf dem Weg zurück in die Hölle der letzten Jahrhunderte ... als Kämpfen was Heroisches und Erhabenes war, weil es so schön tot macht."

      "Tom, Du redest schon wie Mütze und die anderen Weiber aus der Zentrale," meinte Susie. "Aber wir sollten jetzt erst mal unseren Gast versorgen, bevor wir uns zum Strümpfestricken hinhocken."

      Kandy und die vierte Frau im Raum ... sie war älter als die anderen, vielleicht Mitte vierzig, breit und überaus kräftig, kriegerisch mit einer langen, weißen Narbe auf der rechten Brust ... bogen sich vor Lachen, und Tom, keineswegs gekränkt, grinste mit ihnen über den Insiderwitz. Joschi fand daran nichts Lustiges, dafür aber umso mehr Informatives: "Die anderen Weiber aus der Zentrale" ... er wusste immer noch nicht, wie Nazis, Kirche und diese Weiberzentrale zusammenhingen. In seinem Inneren nahm er den Frauen die zweite Entführung ab, auch wenn er weiter den Ungläubigen spielte.

      "Gast?" hakte er vorwurfsvoll nach. "Wollen Sie etwa behaupten, ich kann mich jetzt verabschieden, den Raum durch diese Türe verlassen und unbehelligt nach Hause fahren?"

      "Joschi Silajev, mach uns nichts vor. Wir wissen, dass man nicht Jahrzehnte in den heiligen Hallen von Straßburg überlebt, weil man so nett und naiv ist. Wir haben nichts Unangenehmes mit dir vor, aber behalten werden wir dich. Für eine gewisse Zeit zumindest."

      "So. Mich behalten! Haben Sie sich eigentlich schon einmal überlegt, was es heißt, einen Mann meines Ranges festzuhalten? Selbst wenn ich einmal annehme, dass Sie mit den Nazis tatsächlich nichts zu tun haben ... dass Sie mich, aus welchen Gründen auch immer, sozusagen befreit haben ... sieht das die Unionspolizei sicher anders. Ich schätze, dass seit dem Massaker auf der Autobahn mindestens zwölf Stunden verstrichen sind. Und selbst wenn es weniger wären ..."

      "Spar dir die Mühe. Wir kennen die Arbeitsweise eurer Bullen. Aber wo sie nix wissen, könn'n sie nich' pissen."

      "Wie bitte?"

      "Also Klartext: Die suchen dich wie verrückt ... mitten in einem Ameisenkrieg aus etwa drei aufgestörten Haufen: den Unions-Nazis, den Waldleuten und den freien Nazis. Verstehst du ... alle sind fest davon überzeugt, dass die anderen dich haben. Mit uns rechnet keiner von denen. Und eure superschlauen Bullen sitzen mittendrin in dem Bandenkrieg, den sie gerade um deinen hübschen Hintern führen. Und zwar nicht nur hier im Unionsgebiet. Du könntest überall sein. Im Toten Land, im Kaukasus, in Mazedonien ... such dir's aus."

      "Raffiniert,


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