Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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kleines Faschoschwein!"

      Ihre Stimme ist schmelzendes Gold. Der Stiefel hebt sich ein paar Millimeter. Erfolglos versucht Klin, das Ungeheuer am Bein umzuwerfen ... lächelnd tritt sie zu. Aus seinem zerschmetterten Kehlkopf dringt ein leises Gurgeln.

      Kapitel I – 2091

      "Joschi!"

      Es war die Stimme seiner Mutter, deutlich trotz der Entfernung und des Quietschens der Schaukel. Nein, er wollte nicht antworten, noch nicht ... nicht den Schwung unterbrechen, das kribbelnde Fliegen und Sausen ... streichelte die Luft des Frühsommers über seine nackten Arme und Beine und durch das dünne Hemd auch den Oberkörper. Kräftig packten seine Hände zu, trieb der Körper die Schaukel zu neuem Schwung, wurde das Quietschen kurz, hoch. Er legte sich weit zurück, Beine und Oberkörper fast waagrecht, den Kopf in den Nacken. Das Blut strömte ins Hirn. Eine umgekehrte Welt schwang mühelos um ihn, der Himmel, die Wohnblocks, die Baumkronen, die Stämme, der Rasen, Stämme, Kronen, Häuser, Himmel Häuser Bäume Rasen schwangen im Rausch, auf und ab ... drehende, verkehrte, vergessene Welt. Er verschaukelte sich. So nannte er das. Schwang im Rausch ... er verstand es nicht, tat es einfach. Die Bemerkungen der Leute hatten ihn schon vorsichtig gemacht. Je wichtiger der Rausch ihm wurde, desto mehr achtete er darauf, dass es keinem auffiel.

      Obwohl er mit fast fünfzehn nicht nur nach Ansicht seiner Eltern zu alt für den Spielplatz war, sahen sie ihn lieber dort als bei den Älteren, die sich auf dem großen Parkplatz des Supermarkts an der Electrometalurhiva Straße mit ihren Skates, Bikes, Monoflacs tummelten ... und mit Mädchen.

      Ja, Joschi wusste, dass er anders war. Lieber schaukelte, als ernst und wichtig bei seinen Altersgenossen zu stehen. Er war kein Kind mehr. Spätestens die letzte Nacht hatte ihm das gezeigt, und Svenja. Svenja mit ihren kleinen, feuchten Händen, ihren hastigen Küssen, ihrem unbeholfenen Tasten und Forschen. Ein leiser, heimlicher und dennoch endgültiger Abschied von der Kindheit. War das dieses Gefühl, das man 'Liebe' nannte? Es war sehr schön gewesen, doch nichts, was ihn vor Sehnsucht sterben ließ ... oder wie das immer beschrieben wurde. Himmel, Wohnblocks, Bäume, Rasen, Wohnblocks, Himmel, Wohnblocks, Bäume ...

      "Joschi!"

      Das war deutlich in der Nähe. Hastig richtete er sich auf. Er ahnte, dass seine Mutter die Traumstellung mit hinten herabhängendem Kopf nicht gutheißen würde. Neugierig schaute er ihr entgegen. Er hatte keine Idee, weshalb sie ihn suchen kam. Zeit fürs Abendessen war noch lange nicht, eingekauft hatte er erst gestern mit ihr, und Ärger in der Schule hatte es auch keinen gegeben.

      "Joschi. Da bist du ja. Hätt' ich mir denken können. Du und deine Schaukel ..."

      Er antwortete nicht, ließ sich langsam ausschwingen und blickte ihr entgegen.

      "Komm! Du musst mitkommen ... nach Hause. Vater ist da. Und wir haben eine Überraschung für dich."

      Er rutschte von seinem Sitz, ging ein paar Schritte auf die Mutter zu. Um welche Überraschung es sich handeln mochte, schlecht war sie nicht ... er kannte dieses Funkeln aus feuchten Augen. War etwa Katja überraschend zu Besuch gekommen, seine Cousine aus Odessa? Seine Mutter wusste, wie sehr er an ihr hing. Odessa war ein anderer Bezirk als Nikopol. Vielleicht hatten sie dort schon Ferien. Seine Mutter zog ihn in die Arme.

      "Oh, ich freu' mich ja so ..." - fast stöhnend und eher zu sich.

      "Äh ... ja, auf was denn?" fragte er verwirrt.

      Soviel Erregung ... und sein Vater zu Hause ... das bedeutete mehr als einen überraschenden Besuch.

      "Es ist eine Ehre für mich. Und es wird ein Abenteuer ... für uns alle," sagte sein Vater.

      Joschi hätte seinen Vater gerne umarmt. Er liebte seinen Vater ... die Größe, die Wärme, die Verlässlichkeit, gerade in diesem Moment und mit dieser Nachricht auf den Lippen. Doch anfassen ließ er sich nicht mehr von ihm, seit Jahren schon nicht. 'Du bist kein Kind mehr, und Männer umarmen sich nicht,' hatte sein Vater ihm erklärt. Und die Großmutter meinte dazu, das sei damals, vor hundert Jahren, mit dem Stalinismus zu Ende gegangen. Im Stalinismus hätten sich Männer immerzu umarmt, und immer aus den falschen Gründen.

      Joschi hätte sich jetzt gerne an ihn gedrückt ... um ihm seine Freude zu zeigen, auf ganz natürliche Weise und ohne die schalen Worte, die Erwachsene dazu immer benutzten ... und um sein Zittern zu dämpfen, aus Freude und Angst ... denn plötzlich lag ein ungeheurer Schritt vor ihm, der Sprung in eine ferne Welt ... so fern, dass ihm klar war, es würde nachher keine Verbindungen, kein rasches Zurück mehr geben.

      Es ging nach Deutschland, in eine Stadt namens Frankfurt, das mächtige Finanzzentrum der Europäischen Union. Sein Vater war Wirtschaftsjournalist des Kiewer Wirtschaftsmagazins Economía, Redaktion Nikopol ... und nun ihr Korrespondent in Frankfurt. In zwei Monaten würden sie umziehen.

      ***

      Für den Moment hatte Joschi den Trennungsschmerz vergessen. Er kroch förmlich in das kleine Fensterchen, starrte hinab auf das Märchenland ... die nächtliche Metropole fing ihn mit ihren Lichtnetzen, schimmernde Adern und Knoten, zähflüssig auf den großen Straßen, brodelnde Lichtkessel über Plätzen ... Frankfurt war nicht Moskau, Tokio, London oder Sao Paulo, doch es war eines der Zentren der Europäischen Union, und wurde oft fast jeden Tag in den Nachrichten genannt ... Wirtschaft, Finanzen, Unruhen, Kulte, Messen, Muzzik, Acions klangen mit Frankfurt im Ohr. Die Stadt selbst, so hatte er erfahren, war nicht sonderlich groß ... kein Vergleich zu Dnjepropetrowsk, Charkow oder gar Kiew. Doch das ganze Gebiet um Frankfurt war eine dichtbesiedelte Stadtlandschaft, ein Menschenpferch von zweihundert Kilometern Durchmesser ... und eine Region Europas, die nie unter den Verheerungen des Stalinismus hatte leiden müssen.

      Die zitternde Vorfreude auf tausend Wunder hatte sich dem Kummer zugesellt, als er erfuhr, dass die Familie praktisch ihre ganze Habe zurücklassen musste. Die schicke Dienstwohnung in einem der neuen, riesigen Wohnkomplexe war für die Zeitung nicht mehr bezahlbar. Der neue Korrespondent musste mit seiner Familie zur Untermiete bei einem Freund seines Vorgängers einziehen.

      Der Flughafen von Dnjepropetrowsk, die moderne Illjuschin Il 522, das Essen und die Sprache der Stewardessen waren neu, interessant, doch gleichzeitig vertraut gewesen. Je näher sie dem Märchenland kamen, umso häufiger folgten den weichen russischen Durchsagen einige Sätze mit knallenden und knarrenden Lauten ... Deutsch, das er kaum verstand und das er noch einen geborenen Deutschen hatte sprechen hören. Selbst die deutschen Nachrichten im Web-Kanal wurden von Ukrainern gelesen. Als er nun aus seinem Flugzeugfensterchen starrte, wunderte er sich kurz darüber, wie wenig diese krachende Sprache und die Schönheit dort unten zusammenpassten.

      Es war elf Uhr abends ... eine halbe Stunde Wartezeit über dem Flughafen, kreisend in einer langsam sinkenden Spirale, genug Zeit, sich alles anzuschauen ... das unregelmäßige Lichtnetz mit seinen Ketten und Knoten, die Autobahnen weiß und rot in gegenläufigem Fluss, die hellen orangenen Achsen und Ballen, gleißend weiße Blasen, Schriftzüge in allen Farben an kolossalen Quadern, grünliche Flecken wie leuchtender Schimmel und immer wieder Wände aus lichtgelben Pünktchen, die Komplexe, die im Süden bis zu ihrer Flughöhe zu reichen schienen ... tiefer sank das Flugzeug in das Lichtbad, Einzelheiten wurden erkennbar ... so dicht der Verkehr auf den Straßen ... Joschi fragte sich, ob diese zehn Millionen Menschen noch alle unterwegs waren um diese Zeit ... eine harte Kurve zog die Türme der Frankfurter Innenstadt vor sein Blickfeld. Und dann ging es wie im Fahrstuhl abwärts, hob ihn hoch aus dem Sessel in seinen Gurt, kreischte und pfiff ... moderne Verkehrsflugzeuge landeten und starteten fast senkrecht, ein Muss in einer Welt, in der 11 Milliarden Menschen keinen Platz für lange Einflugschneisen vor den Städten ließen.

      Am Boden brach das Chaos über sie herein. Durch eine Umleitung im falschen Terminal gestrandet ... einem, das sein Vater nicht kannte ... ein Alptraum aus überfüllten Korridoren, Passagen und Plätzen, ein Gebäude, das ganz Nikopol verschluckt hätte. Musik hämmerte in den Magen, von allen Seiten, dröhnend aus kleinen Kugeln, die gefährlich wirkende Jugendliche und selbst Kinder um den Hals trugen. Bettler aller Hautfarben und Stadien des Elends streckten ihnen die Hände entgegen oder, was sie statt einer Hand nutzten ... vielfach verstümmelte Opfer der zahllosen Kämpfe,


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