Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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wie Kampfroboter.

      Geschoben, geknufft, betäubt rettete sich die Familie in eine Nische. Ein dunkler, bärtiger Mann mit einem lachsfarbenen Turban verschloss gegenüber ein kleines Blumengeschäft. Der Vater sprach ihn an ... auf Deutsch und Englisch, der Mann schien Inder zu sein ... doch Russisch war die Sprache, die er am besten verstand.

      "Das Info-Zentrum der ukrainischen Fluglinie? Das ist im Terminal P. Aber das finden Sie nie. Ich bring' Sie hin ..."

      "Das ist doch nicht nötig. Zeigen Sie uns nur ..."

      "Doch, doch, es ist kein Problem. Erklären kann man das schlecht ... und es sind schon Menschen verloren gegangen in diesem Flughafen ..."

      "Oder wir rufen unseren Freund aus, der uns abholen wollte ..."

      "Hören Sie."

      "Wie bitte?"

      "Nein, hören Sie! Hören Sie irgendetwas?"

      "Nein ... nur den Krach überall."

      "Eben! Vergessen Sie das mit dem Ausrufen, und kommen Sie. Es ist kein Umweg für mich."

      Noch einen Kilometer ging es durch das Gewühl, dann hinab, über lange Rolltreppen, durch schabend aufgleitende Glastüren ... zu einem kleinen Bahnhof, in dem eine Glaskabine mit Sitzen wartete.

      "Die Skyline," erläuterte der Inder. Und, ohne Häme: "Schon diesen Bahnhof hätten Sie wahrscheinlich nie gefunden. Sie sehen, wie wenig hier los ist. Viele Leute kennen die Skyline nicht. Und die Hinweisschilder werden so oft von Banden überklebt, um Fremde in Fallen zu locken, dass die Verwaltung sie alle abgeschraubt hat. Die Leute, die hier im Gebäude leben, kommen auch gar nicht hier durch, denn man braucht ein Flugticket oder eine Arbeitskarte, um damit zu fahren."

      Elektrobetrieben lautlos glitten sie durch Licht und Dunkelheit, Kilometer um Kilometer, mit Menschen aus allen Ecken des globalen Dorfs ... schulterlang wehende Mähnen afrikanischer Adeliger, glitzernd in Schmuck ... Amerikaner in bonbonfarbenen Sackanzügen, den Körper weich und bauschig vom Hals bis zu den Knien verhüllt ... die Gesichter Europas in allen Tönen, Frauen und Männer kaum zu unterscheiden, unter bunten Mützen, Ballonkappen und Hüten der vorherrschenden Mode, konservativ bunt und androgyn ... und ein paar ebenso geschlechtslos eckige Gestalten in der martialisch eleganten Uniform der Unionsstreitkräfte. Joschi hatte Info-Sendungen und Nachrichten immer fleißig verfolgt, hatte keine Mühe, die Typen und ihre Herkunft zu identifizieren.

      "Nennt mich Adrian!" bat der große, schlanke Mann die Familie. Er hatte die ganze Zeit ... es war inzwischen nach Mitternacht ... geduldig vor den Schalten der Fluglinie gewartet. Adrian Kreutzer, der Freund des Vorgängers, bei dem sie wohnen sollten. Joschi mochte ihn vom ersten Moment an. Das offene Lächeln, die kräftigen Hände, die ohne Zögern zwei ihrer Koffer ergriffen, der geschmackvoll ruhige, rostfarbene Anzug ohne schrille Kontraste ... weckten Vertrauen, wirkten menschlich, nicht halb so fremd wie der endlose Bienenstock, durch den sie in der vergangenen Stunde gestolpert waren.

      "Pogirev hat euch hoffentlich erzählt, dass es zunächst bei uns etwas beengt zugehen wird. Mein Cousin und seine Frau sind vor dem indonesischen Bürgerkrieg aus Australien geflohen und wohnen ebenfalls bei uns. Aber keine Sorge, ihr kommt schon unter. Wir haben in der Wohnung im Souterrain erst mal ein Zimmer freigemacht, und Joschi kann bei unserem Sohn schlafen. Im Augenblick wohnt unten noch ein türkischer Kollege. Aber er geht in ein paar Wochen in die Türkei zurück. Daher haben wir ihn eingeladen, bei uns zu bleiben, obwohl ihr die Souterrainwohnung bekommen solltet. Yelmaz ist ein lieber Kerl ... und wir hätten ihn buchstäblich auf die Straße setzen müssen. Aber ihr werdet sehen: Yelmaz ist der letzte, der euch irgendwelche Umstände macht."

      Adrians Deutsch war sehr klar und fast so weich wie das eines Ukrainers. Sie hatten sich, das Gepäck teilweise auf den Knien, in Adrians kleines Auto gequetscht, ein knubbeliger Toyota, nun selbst ein weißes oder rotes Doppellicht für andere Fluggäste.

      Joschi war nicht auf einem anderen Planeten. Die Gestalten im Flughafen hatte er schon hundertmal im Web-TV gesehen. Sensationell war das unmittelbare, reale Dabeisein ... und die Ahnung erfüllbarer Wünsche, verschwommener Träume, die ihn in letzter Zeit oft hatten unruhig schlafen lassen ... hier, im Hexenkessel einer Unionsmetropole, weit entfernt von dem immer noch ein wenig steifen, geordneten Leben der ehemaligen stalinistischen Sphäre. Ebenso geläufig waren Joschi die Umstände, die den Cousin oder Herrn Örgün in Adrians Haus gebracht hatten. Die Welt war ein kleines, überfülltes Dorf. Ein Ereignis wie der indonesische Bürgerkrieg setzte sofort Millionen Flüchtlinge in Bewegung ... in diesem Fall auch wieder in Richtung Deutschland, woher viele der australischen Bürger stammten. Daher waren nun jede Wohnung, jedes Haus, sogar die gigantischen, bis zu siebzig Stockwerke hohen Wohnkomplexe bis zum Bersten gefüllt. Selbst ein Türke hatte keine Chance, eine bezahlbare Unterkunft zu finden, wenn er nicht mit einer der wohlhabenden alémantürkischen Familien verwandt war.

      Leise summte der elektrisch angetriebene Kleinwagen durch die lichte Großstadtnacht, gesteuert vom Autopiloten und den Rechnern des Verkehrsleitsystems.

      Adrian wendete sich direkt an Joschi: "Ich habe einen Sohn in deinem Alter ... etwa. Vierzehn und ein paar Monate. Er hat sogar einen russischen Namen, Alexander, aber wir nennen ihn Axi. Er freut sich darauf, dass du bei uns einziehst. Er hat schon überall für dich Platz gemacht."

      "Ist er ... einzeln?" fragte Joschi in holperigem Deutsch.

      Adrian lachte.

      "Nein, er ist kein Einzelkind. Axi hat eine Schwester ... Clarissa. Sie ist siebzehn. Aber Du wirst sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie wohnt zwar noch bei uns ... offiziell ... und wenn sie mal zu Hause schläft, müssen Du und Axi zusammenrücken; in Ihrem Zimmer schlafen die Kinder meines Cousins ... aber das kommt selten vor. Meistens schläft sie bei ihrer Freundin in Frankfurt."

      Joschi fragte nicht weiter. Ohne recht zu wissen weshalb, war ihm warm geworden bei dem Gedanken, dass ein Mädchen im Alter seiner Cousine Katja zu dieser Familie gehörte.

      Kreutzers bewohnten eine fast zweihundert Jahre alte Villa in einem Vorort von Frankfurt. Joschi hatte noch nie ein so weitläufiges und gleichzeitig so verwinkeltes Privathaus kennengelernt. Moderne Villen in Nikopol waren klare, offene Konstruktionen mit wenig festen Trennwänden. Natürlich kannte er auch die alten, pompösen Bonzenhäuser der Oberstalinisten. Aber die waren düster und öde. Noch ältere Häuser gab es praktisch nicht mehr. Sie waren im Stalinismus meist so verkommen, dass man auf Renovierungen verzichtet und sie zum größten Teil längst abgerissen hatte.

      Joschi war erst nach zwei Uhr ins Bett gekommen ... das obere eines stabilen, breiten Doppelstockbetts. Doch schon um zehn Uhr morgens war er wieder wach. Er fand einen Zettel ... russisch, in der Handschrift seiner Mutter. Die Eltern waren mit Kreutzers in die Stadt gefahren, um einige Formalitäten zu erledigen. Der Zettel wies ihm den Weg zu Bad und Küche und informierte ihn, dass Axi vermutlich im Garten auf ihn wartete. Joschi fand seine Sachen und das Bad. Er zog sich ein T-Shirt und eine kurze Hose über und ging hinab, um Axi zu suchen.

      Nach Adrians Ankündigungen hatte er instinktiv erwartet, in ein kleines, dunkles, überfülltes Haus zu kommen ... mit Kisten voller Flüchtlingshabe auf allen Gängen und trocknender Wäsche in den Zimmern. Doch hier war von Überfüllung, gar Dunkelheit keine Spur. Räume und Möbel waren durchweg in hellen Farben gehalten. Alle Türen und die meisten Fenster standen offen. Sonnenlicht strömte in das große, helle Haus ... und dahinter ein stetiges Summen von der nahen Durchgangsstraße. Es war jetzt schon sehr warm; ein heißer Sommertag kündigte sich an. Auf dem großen Esstisch an einem Ende des Wohnraums stand ein Krug mit Milch, ein Topf mit einer roten Marmelade ... "Erdbeere Acerola" entzifferte er, was immer das sein sollte ... und ein Korb mit frischen Brötchen ... davor Teller und Trinkbecher und ein weiterer Zettel, "Willkommen bei uns, Joschi" in einer geschwungenen Handschrift, vielleicht der von Adrians Frau.

      Ein halbes Brötchen mit Marmelade in der Hand trat er auf die Veranda hinaus. Vor ihm ... eine Rasenfläche, links eine Hecke aus dichtem Nadelgehölz, dahinter ein Gemüsegarten ... rechts ein Sandkasten und - eine Schaukel! Zwei kleine Kinder spielten an dem Sandkasten, vermutlich die Töchter des Cousins. Joschi trat ein paar Schritte vor.


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