Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth
seiner Größe, kurze, schwarze Haare, sonnenbraune Haut ... Joschi blinzelte in die Helligkeit ... und splitternackt. Der Junge bemerkte ihn, bevor Joschi sich entschließen konnte, dieses anscheinend intime Sonnenbad zu stören.
"Hallo! Du bist wach. Wart' einen Moment. Ich komme."
Er steckte ein Lesezeichen in das Buch, sprang auf und kam, nackt wie er war, auf Joschi zu, streckte ihm die Hand entgegen ...
"Schön, dass ihr da seid. Hast du gut geschlafen? Und deine Sachen gefunden ... da war ein Zettel ... aber ich seh's ja ... und sag mir, wenn ich zu schnell spreche."
Dazu bestand allerdings Anlass, denn Axis Worte sprangen und sausten wie eine Gerölllawine. Joschi selbst brachte zunächst nur ein mühsames deutsches "Guten Tag" heraus. Er war verwirrt. Er hätte nicht sagen können, was ihn am meisten verunsicherte ... die Nacktheit des anderen, die ungewohnte Sprache oder dieses Gefühl, sich in einem seltsam deutlichen Traum zu bewegen.
Seiner Blöße maß Axi jedenfalls keinerlei Bedeutung bei. Freundlich und mit geduldigen Wiederholungen erklärte er Joschi, was er über das Haus und seine Bewohner wissen sollte ... und störte sich auch nicht im Geringsten an dessen Starren und Stottern. Im Adamskostüm leistete er Joschi beim Frühstück Gesellschaft, führte ihn durch Haus und Garten und half ihm, im gemeinsamen Zimmer seine Sachen unterzubringen.
"Ich kann dir auch schon mal die Umgebung und den Weg zur Schule zeigen," schlug Axi schließlich vor. "Du kannst doch Fahrrad fahren?"
"Ja, klar," antwortete Joschi.
"Ich muss vorher nur die Fenster zumachen und den Kids Bescheid sagen."
"Und ... Anzug," rutschte es Joschi heraus.
"Wie? Nochmal ..."
"Ich ... ich sagen will ... dass du so ... nicht gehen. Hinaus," stotterte Joschi und spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss.
"Ach ... anziehen! Klar, du bist ja auch angezogen ... es würd' hier in der Gegend nix ausmachen, aber bis zur Schule, da hast du recht. Also gut, einen Moment noch."
Während überall im Haus die Fenster klappten und Jalousien quietschten, stand Joschi verdattert am Fuß der Treppe in der Diele. Dieser Junge hätte sich tatsächlich nackt aufs Fahrrad gesetzt, um ihm die Umgebung dieses Hauses zu zeigen!
Joschi spürte etwas von ganz tief unten in sich aufsteigen, ein dumpfes Ziehen. Angst war es nicht. Und an die Nacktheit des anderen Jungen hatte er sich nach fünf Minuten gewöhnt. Doch allein die Andeutung der Möglichkeit, nackt eine öffentliche Straße hinunter zu radeln! Instinktiv war ihm klar, dass Axi kein ausgefallener Spinner war oder ihn mit solchen Vorstellungen aufziehen wollte. Er benahm sich sonst völlig normal, zumindest nach dem Maßstab, den Joschi bei einem Jungen seines Alters in diesem Land anlegen mochte. Nein, es war das Gefühl der Fremdheit, das ihn zum ersten Mal überfiel ... einer abgrundtiefen Fremdheit: Das Wetter war warm genug, also lohnte sich das Anziehen nicht. So einfach war das. Joschi schluckte.
Nach einer Stunde Radfahrt machten sie Pause im alten Kurpark. Sie saßen am Rand einer weiten Wiese im Schatten eines Gebüschs. Mit einem dicken Kloß im Hals beobachtete Joschi die allgegenwärtige Nacktheit. Im Zentrum des Städtchens waren es nur einige kleine Kinder gewesen, die nackt am Brunnen vor einem Ladenzentrum spielten ... und einige Männer und Frauen mit bloßem Oberkörper vor einem Café in der glühenden Sonne. Doch in diesem Park mischten sich Bekleidete und Unbekleidete in beinahe gleicher Zahl, Kinder und Jugendliche ebenso wie jüngere Erwachsene. Nur die Älteren ... zumeist Kurgäste, wie Axi meinte ... beschränkten sich auf nackte Sonnenbäder, und trugen auf Wegen und Straßen leichte Freizeitkleidung. Vor allem der Anblick der Frauen ließ Joschis Herz höher schlagen und verschaffte ihm eine schmerzhafte Dauererektion. Jeden Moment rechnete er damit, dass sein Samen von allein in die Unterhose schoss. Kaum wagte er, sich dort anzufassen, sein Glied wenigstens etwas zur Seite zu schieben.
"Toll ist es, ja!" beantwortete er mühsam eine entsprechende Frage seines Führers. "Aber auch komisch. Fast wie bei uns ... und trotzdem anders."
"Na, logisch! Ihr habt ein anderes Klima, 'ne andere Kultur. Weißt du, Frankreich zum Beispiel ... die sind mit uns von Anfang an in der Union gewesen, also schon fast 150 Jahre. Damals hattet ihr noch dreißig Jahre Stalinismus vor Euch. Also ... sogar in Frankreich spürst du heute noch, dass Einiges anders ist als bei uns ... nicht nur die alten Häuser oder die Namen, mein' ich. Obwohl mein Vater immer sagt, Frankreich habe seine ganze Identität verloren."
"Franzosen ... kenn' ich gar keine. In unserer Siedlung haben keine gelebt. Vielleicht irgendwo anders in Nikopol, aber nicht in Gagarin Park. Aber ich glaube, das kann man gar nicht vergleichen ... weil ... also zum Beispiel wie ... wie die Menschen hier laufen ... das ist nicht möglich ... in der Ukraine."
"Wie die Menschen laufen?"
"Ja ... die die ... Kleider ... ohne ..."
"Ah! Jetzt kapier' ich das! Ja ... mein Vater hat so was erwähnt ... dass ihr das nicht kennt. Obwohl, angefangen hat das bei euch auch schon. In den Parks von Kiew oder Charkow gibt es doch genügend Nackte."
"Ja ... in Kiew oder Charkow ..."
Joschi hatte in den Nachrichten davon gehört ... von dieser verrückten Mode aus dem Westen der Union, von der man annahm ... hoffte ... dass sie bald wieder abklingen würde.
"Bei uns hat es genauso angefangen ... ein paar Leute in den Parks von ein paar großen Städten. Und es gibt auch in Deutschland noch genügend öde Gegenden, wo sie höchstens mal nackt baden gehen. Hat dein Vater Euch eigentlich nicht erzählt, wie es hier so ist? Er war doch schon zweimal da. Aber ... bei uns ist wahrscheinlich so vieles anders als bei euch, dass es kaum eine Rolle spielt."
Joschi kam der Gedanke, dass sein Vater vielleicht wegen seiner Mutter den Mund gehalten hatte. Vielleicht wäre sie nicht mit dem Umzug einverstanden gewesen, wenn er sie darauf vorbereitet hätte, dass ihr hier auf der Straße leicht ein nackter Mann begegnen konnte. Oder ihm eine nackte Frau. Seine Mutter stammte aus einer ländlichen Region, in der man Nackte höchstens aus den Medien kannte, die offiziell nie jemand anschaute.
Das war also sein Abenteuer: Nackte in aller Öffentlichkeit, das Chaos auf dem Flughafen oder die noch unbekannten Geheimnisse der großen Stadt. Er würde sich daran gewöhnen müssen, ganz normal zu reagieren ... er konnte schließlich nicht den ganzen Sommer über zur Seite schauen. Doch es würde schwierig werden ... besonders bei den gutaussehenden Mädchen.
Abends saßen sie an dem großen Esstisch ... er mit Axi, mit dem er den ganzen Tag unterwegs gewesen war ... seine Eltern, erschöpft in irgendwelche Papiere vertieft ... Adrians Cousin mit Frau und Kindern. Adrians Frau war in Frankfurt unterwegs. Adrian und Yelmaz bereiteten in der Küche das Abendessen vor. Ein zusätzlicher freier Stuhl erregte Joschis Phantasie. Clarissa wurde zum Essen erwartet. Joschi war mehr als gespannt, nachdem Axi allen Fragen über seine Schwester mit einem "Wart's ab" ausgewichen war.
Yelmaz Örgün war ein freundlicher Mann, schlank, kleiner als Adrian, mit kurzen, eisgrauen Borstenhaaren und einem tiefschwarzen, dichten Schnauzbart. Joschi fiel auf, dass er überall im Haushalt mit anpackte ... und das in bester Laune ... während Adrians Cousin und dessen Frau sich wie Hotelgäste benahmen ... unzufriedene, mürrische Hotelgäste. Sie trugen ihr Schicksal so demonstrativ vor sich her, dass es Joschi sofort aufgefallen war ... obwohl es so schrecklich nicht war, verglichen mit dem der meisten von den 300 Millionen Elends- und Kriegsflüchtlingen überall auf der Welt. Es ging ihnen nicht schlecht, sie benahmen sich schlecht.
"Die ärgern sich doch nur schwarz, dass sie so aufs Maul gefallen sind," hatte Axi ihm erläutert. "Du hättest mal die Sprüche hören sollen, die sie in den Mails oder am Telefon immer d'rauf hatten. Australien sei ja soo schön ordentlich und sauber und sicher ... und wir dagegen mit unserem Schmutz und unserer Unmoral und bla."
"Unmoral?"
"Na, zum Beispiel, du hast doch die Nachbarn links gesehen heute morgen auf ihrer Terrasse. Drei Männer, fünf Frauen. Sie leben zusammen als Conglobat. Eine Mehr-Personen-Partnerschaft. Schlafen auch alle miteinander. Die gibt es in Europa überall, auch