Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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wer immer Sie eigentlich sind, unsere Analytiker werden es wissen ..."

      "Oh Kind ohne Mutter! Du verstehst es einfach nicht!"

      Susie feixte, die anderen grinsten. Er selbst war mit sich zufrieden. Ihm war sofort klar gewesen, dass eine so ungewöhnliche Befreiung andere Gründe als gewöhnliche Erpressung haben musste. Seine Methode schien zu funktionieren. Bis Tom sich einmischte.

      "Schluss jetzt!" meinte die Frau, die wie ein Mann aussah. "Er braucht es auch nicht zu verstehen! Oder er versteht es in Wahrheit recht gut. Joschi Silajev, du weißt fürs Erste genug. Du bleibst bei uns und begleitest mich in Kürze auf einen kleinen Ausflug. Es gibt ein paar Leute, die sich mit dir unterhalten wollen ... nein, nein, nicht ausfragen oder foltern, nur reden. Im Gegenteil, du wirst vielleicht mehr zuhören als selbst reden. Das ist alles, was man von dir will. Und den Ärger mit den Bullen oder den Nazis ... wo immer da der Unterschied ist ... überlass uns!"

      Tom wandte sich um und ging zur Türe. Sie klopfte drei Mal dagegen, dann wurde von außen aufgeschlossen. Tom ging hinaus, und die anderen Frauen folgten ihr, Kandy als letzte. Unter der Türe blieb sie stehen und wendete sich zu ihm um.

      "Schlaf jetzt noch ein bisschen, wenn du kannst," meinte sie. "Und wenn du was brauchst, klopfst du an die Tür wie sie eben."

      "Einen Moment. Bitte!" rief er.

      Sie hielt inne und schaute ihn an. In diesem Moment erschien neben ihr eine fünfte Frau ... glatte, kurze, rostrote Haare, ein weiches Mädchengesicht, in beeindruckendem Kontrast dazu ihr großer, kräftiger Körper. Sie war gekleidet wie die anderen, ihre Haut blass, die kleinen, festen Kegel ihrer Brüste besprenkelt mit Sommersprossen. Aus einem Halfter an ihrem Gürtel ragte der klobige Griff einer schweren, modernen Schusswaffe. Auch sie schien nicht die geringsten Bedenken zu hegen, ihm ihr Gesicht zu zeigen. Waren diese Frauen alle lebensmüde? Oder ... ihm wurde heiß bei dem Gedanken ... hatte sie einen Grund, sich vor jeder Verfolgung sicher zu fühlen? Wer konnte die Entführung eines Europäischen Rates wagen, wenn nicht aus purer Dummheit wie die Nazis? Die einzig wirklich Mächtigen auf dieser Welt waren die Triaden ...

      "Was is'?"

      "Nur eine Frage. Wohin soll dieser Ausflug führen?"

      "Sei nicht so neugierig, Herr Rat," erwiderte Kandy.

      "Sie erwarten doch, dass ich Ihnen zuhöre. Später. Nun, wenn Sie soviel Wert darauf legen ... ich höre jetzt schon zu."

      "Also gut. Aber" – todernst, doch mit der Andeutung eines Grinsens – "verrat's keinem! Nach Berlin."

      ***

      Berlin.

      "Komm, entspann dich, Mann. Wir haben's geschafft."

      Tom kurbelt ihre Seitenscheibe hinunter. Ein um ein Winziges kühleres Lüftchen weht in die stickige Fahrerkabine des kleinen Transporters ... ein 87er VW mit Biospritantrieb, der auf der langen Fahrt durch zwei feuchtwarme Nächte den Angstschweiß seiner Geschichte ausgedünstet hat ... ergänzt durch Joschis eigenen ... und vermutlich den von Tom. Die Fahrt durch die Ausläufer des Toten Landes ist für niemanden ein Spaziergang. Auch Joschi kurbelt, streckt den Kopf hinaus. Seit sie in der Zone sind, trägt er nur eine leichte Fußkette.

      "Wie lange noch?"

      "Was?"

      "Wie lange fahren wir noch?"

      "Jetzt, um Mitternacht, kommen wir gut durch. Zwanzig Minuten."

      "Weshalb 'jetzt'?"

      "Du stellst Fragen. Weil in ein, zwei Stunden wieder dicker Verkehr kommt. Nichts im Vergleich zu früher, aber Berlin is' immer noch 'ne Großstadt. Im Zentrum kann's schon mal Staus geben. Das Leben findet eben nachts statt ... wegen der Hitze."

      In der Nähe der Havel ist die Luft noch eine Spur angenehmer. Tief atmet Joschi durch, den Kopf weit aus dem Fenster gereckt. Der Verkehr wird langsam dichter ... kleine, leichtgebaute Ein-, Zwei- und Viersitzer, offene Gestelle mit Wasserstoffantrieb, Sitzen und Gepäckkorb ... genug für den Stadtverkehr. Rechts flackert unter Bäumen ein Feuer ... malerische Gestalten, nackt oder mit zerlumptem Wenig, bewegen sich darum.

      "Was ist das?"

      Er deutet nach draußen.

      "Das Feuer? Ach, nur so ein altes Ritual. Wo sind wir ... Pichelswerder ... Punks, Trekkies, Neonics, einfach Leute, die gerne unter Bäumen an einem Feuer beisammen hocken und saufen."

      "Obdachlose?"

      Tom bläst die Backen auf, legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel.

      "Joschi Silajev! Tu uns beiden einen Gefallen und vergiss dein Straßburger Speicherplattendenken, wenn es um Berlin und Berliner geht. Hier macht jeder einfach, was er will. Solange er nicht das Arschloch spielt. Es macht denen einfach Spaß, da gemeinsam am Feuer zu sitzen. Glaubst du ernsthaft, eine Stadt für fünf Millionen Einwohner, in der noch etwa 200.000 leben, hätte ein Wohnungsproblem?"

      "Nein, sicher nicht. Aber ... ich geb's ja zu: Wir wissen nichts über diese 'Zone'. Ein paar vereinzelte Nachrichten, Straßburger Gassengerüchte ... über ein Gebiet im Toten Land, das ich für so tot gehalten habe wie den Rest. Woher soll ich da wissen, welche Art Leute es hier gibt ..."

      "Eben. Du bist dir Tatsache bewusst, dass du keine Ahnung hast. Aber dann siehst du oranges Licht und denkst, hier sei alles kaputt und würde brennen. Ich versteh' das nur zu gut ... bei der Mentalität eurer Leute würd' es vielleicht brennen. Oder du siehst Leute um ein Feuer und glaubst, es sei Abschaum." Tom spricht schneller und lauter. "Aber ich reg' mich auf ... das bringt dir auch nichts. Sei einfach still und beobachte! Mehr erwartet hier keiner von dir."

      Tausend Dünste, Geräusche, Bilder wehen durch die heiße Nacht ... eine Gruppe sitzt auf alten Stühlen im Kreis am Straßenrand. Der Verkehr stockt, auch Tom muss anhalten. Der Wagen vor ihnen ist direkt neben der Gruppe stehengeblieben, die Leute darin sprechen mit denen im Kreis, Getränke werden hin und her gereicht. Joschi bleibt stumm ... beobachtet das familiäre und doch so fremde Treiben. Überall ist Licht ... hinter den Fenstern .. sogar Seitenstraßen sind durchgehend beleuchtet ... auf ein paar Tischen wird Essen verkauft am Kaiserdamm, dahinter der Sattelzug einer Agrarkooperative vom Stadtrand ... Menschen spazieren, essen, unterhalten sich mitten auf der Fahrbahn. Vorsichtig steuert Tom den Transporter über die belebten Straßen ... vorbei an Menschen in bunten Fetzen, Netzen, nichts ... einige tragen nur etwas Schmuck, befestigt an allen erdenklichen Stellen des Körpers ... oder einen Gürtel mit ein paar kleinen Taschen daran.

      Sie kommen nur im Schritttempo vorwärts. Ständig laufen Menschen ohne jedes Zögern direkt vor den Transporter. Tom flucht leise vor sich hin: "So ein Mist! Ich hab' den Hinweis noch gesehen und nicht beachtet. Am 3. Ring. Wir hätte abbiegen können. Aber da ich so gerne mittendurch fahre ... vor allem, wenn ich vorher monatelang weg war ... musste ich unbedingt hier durch. Mann! Silajev, kannst du dir vorstellen, was das für ein Gefühl ist ... nach fast einem Jahr ... als Mann unter Nazis auch noch ... wieder hierher zu kommen? In freie Luft. Zu Menschen, bei denen du dich nicht verstellen musst?"

      "Du hast als Mann unter Nazis gelebt?"

      "Ja."

      "Doch nicht meinetwegen? Oder doch?"

      "Du bist ein schlaues Bürschchen, Joschi Silajev ... immer darauf aus, den Detektiv zu spielen! Ja, es hatte letzten Endes was mit dir zu tun. Jedenfalls damit, deinen Bürokratenarsch zu retten. Aber geplant war das so nicht. Ich hab' Felderkundung gemacht, ganz allgemein. Der Plan ... den haben die Nazis anscheinend selbst ausgebrütet. Wir wollten anders an euch 'ran ... und nicht jetzt schon. Aber lass dir das von Mütze erklären! Sie ist der Boss bei uns hier."

      ***

      Er war zu Tode erschöpft, doch an Schlaf war nicht zu denken. Wie fühlte man sich, wenn man zu einem Ausflug auf einen fremden Planeten eingeladen wurde? Nachdem seine Angst abgeklungen war, hatte ihn ernsthafte Neugierde gepackt. Aber es war nicht die Reaktion der bedrohten Geisel, die sich mit den Tätern identifiziert. Berlin lag in einer Zone, war ... vermutlich ... ihre Hauptstadt ... einer fast vergessenen Enklave, abgetrennt von


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