Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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für einen Aufstand gemacht hat! 'Unzucht' und 'Perversionen' seien das ... und das vor den Augen ihrer Kinder! Männlein und Weiblein wild durcheinander! Das war ein Auftritt ..."

      "Glaub ich. Sowas Idiotisches! Was arbeitet dein Onkel eigentlich?"

      "Gute Frage. Er is' Ingenieur, irgendwas mit Bauarbeiten. Angeblich sucht er Arbeit. Aber Ansprüche hat der ... wir haben keine Million Quadratkilometer Wüste zum Zubauen wie in Australien. Aber statt sich was Vernünftiges zu suchen, träumt er von irgendwelchen bombastischen Großprojekten, mit denen er das bisschen Landschaft hier zubetonieren will. Die haben dort wie hinterm Mond gelebt. Kein Mensch in Deutschland plant mehr solche Großprojekte. Aber nach Süden oder zu euch will er auch nicht, wo sie ab und zu noch so große Sachen wie Autobahnen oder künstliche Städte planen."

      "Und seine Frau? Hat die einen Beruf?"

      "Die und arbeiten? Sie meint, sie hätte das nicht nötig. Weißt du, in Australien konntest du gut leben, wenn dein Partner Ingenieur war ... mit Haus und Hausmädchen und allem ... aber nicht hier. Wenn du bei uns nicht alleine lebst, aber nur einer was verdient, dann läuft nicht mehr viel. In Deutschland reicht ein Einkommen vielleicht gerade für die Wohnung, die Schulden und Versicherungen und ein bisschen was zu essen. Was glaubst du, wo wir heute alle säßen, wenn meine Eltern dieses Haus nicht geerbt hätten? Und trotzdem arbeitet meine Mutter an der Uni."

      "Das Leben ist hier ... sehr schwierig?"

      "Na, schwierig ... ich meine, man kann auch anders leben, aber ohne Geld ... hast du nichts als Probleme. Und du landest ganz schnell im Dreck. Wenn du erst mal 'ne schlechte Adresse hast, hast du keine Chance mehr. Wenn sie bei uns heute einen guten Job vergeben, schauen sie nach, wo du wohnst. Und wenn deine Kosten zu niedrig sind, bekommst du den Job nicht, weil sie befürchten, dass du zu unabhängig und Ärger machst. Oder dass du asozial bist."

      "Die Menschen hier ... es geht ihnen aber gut. Ich habe heute niemanden gesehen, der ... asozial ist. Aussieht."

      Joschi verstand Axi inzwischen schon recht gut; nur mit dem Formulieren in der verzwickten deutschen Grammatik hatte er seine Schwierigkeiten.

      "Na klar! Obwohl es egal ist. Ghetto bleibt Ghetto, auch wenn es bei Bad Homburg gerade anders herum ist."

      "Ghetto? Das ist doch hier kein Ghetto!"

      "Na was'n sonst? Nur eben eine andere Art ... aber, sag mal ... du weißt das überhaupt nicht? Klar, es hat dir ja auch keiner erzählt, und an den Sperren waren wir heute nicht. Ganz Bad Homburg ist ein Ghetto. Zu. Geschlossen. Ein Protec. Ein 'protected area'. Das gab's früher nur in Amerika, bei Wohnsiedlungen ... aber seit etwa zehn Jahren auch bei uns. Bad Homburg war mit das erste. Um die ganze Stadt läuft ein Zaun ... hübsch verkleidet als Gebüsch oder Schallschutzwand, überall mit Kameras und Bewegungsmeldern. Es gibt Kontrollen an den Toren, und wenn sie Verdacht schöpfen und dich nicht überprüfen können, bleibst du draußen."

      "Kontrollen?"

      "Nach illegalen Drogen oder Waffen. Natürlich darfst du eine Waffe besitzen, aber dann muss deine Karte in Ordnung sein. Hast du den flachen, grauen Kasten bei Vati im Kofferraum gesehen? Da ist ein Riot Booster d'rin, irgendwas mit Schalldruck. Macht viel her, aber gegen die großen Gangs in Frankfurt hätte er keine Chance."

      "Und die ganze Stadt ist ... eingesperrt?"

      "Du meinst 'abgesperrt'. Eigentlich nicht, denn natürlich hat jeder das Recht, sich frei zu bewegen. Aber du brauchst für Orte wie Bad Homburg eben einen Grund. Praktisch läuft das so, dass sie dich am Tor filzen und fragen, wo du hin willst. Dann sagst du zum Beispiel 'zur Therme' oder irgendein Geschäft, und du kannst durch. Rückfragen machen sie erst, wenn deine Karte nicht in Ordnung ist, oder du wirklich übel aussiehst."

      In diesem Moment kam Yelmaz aus der Küche ... freundlich lächelnd, eine volle Schüssel Salat in den Händen, gefolgt von ... Joschi durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag ... es musste Clarissa sein! In der Familie wurde sie "Riss" gerufen. Joschi wusste vom ersten Augenblick an, dass dieses scharf klingende Wort besser zu ihr passte als "Clarissa".

      Eindeutig. Sie glich ihrem Vater ... eine jüngere, weibliche Ausgabe von Adrian. Schlank, sicher eins achtzig groß, mit etwas eckigen Schultern, kräftig wirkenden Armen, in der Hüfte nur halb so breit wie Katja, nur den Hauch einer Brust unter einem weich fallenden Hemd ... verwirrend die stoppelkurzen, schwarzen Haare auf dem hohen Schädel ... verwirrend das Gesicht, Adrians Gesicht, mit hoher Stirn und eigenartigen, harten Linien, der kühl belustigte Blick vor allem über den blassen Cousin und seine Familie ... ein verächtliches Lächeln um die Augenwinkel, das freundlicher wurde, als sie ihn und ihren Bruder ansah.

      Sie war keine zweite Katja. Dennoch besaß Riss alles, was Joschi an Katja schon immer fasziniert hatte ... Figur, Haltung, Bewegungen, Ausstrahlung ... in hoch konzentrierter, fast schmerzhaft unmittelbarer Form. Diese Frau ... Joschi dachte nicht einen Moment daran, sie als Mädchen zu bezeichnen ... war nichts von dem, was Frauen laut der erfahrenen Meinung seiner Altersgenossen oder ihrer Väter zu Hause in der Ukraine angeblich auszeichnete. Katja hatte sich auch immer gegen solche Vorstellungen zur Wehr gesetzt.

      Riss. Joschi sah sie vor sich, die altklugen Jungmachos aus seiner Schule und Nachbarschaft, wie sie verstummt wären unter diesem Blick. Da war Kraft und Selbstbewusstsein in einer Form, wie Joschi sie nie zuvor bei einer erwachsenen Frau gespürt hatte, geschweige denn einer Jugendlichen, nur wenig älter als er selbst ... Selbstbewusstsein bis in die Spitzen der Bürstenhaare, verteilt mit lässigen Gesten, die sich Raum nahmen wie beim Helden einer Actionserie ... ja, wie bei einem Mann ... und eine unterschwellige Bedrohlichkeit. Eine Ahnung stieg in Joschi auf, wie die Welt da draußen beschaffen sein mochte, die eine solche Haltung ermöglichte ... oder notwendig machte. Plötzlich spürte er ein heftiges Wühlen in seinem Bauch, das gewiss nicht vom Hunger kam.

      Kapitel II – 2139

      Flammenschein über Berlin. Klatschnass sind seine Kleider, in der Hitze der Nacht ... der Verband an seinem Arm, das T-Shirt, die Hose. Ein Jackett gibt es längst nicht mehr, nicht mehr seit Würzburg ...

      ***

      "He, Silajev, bist du wach?" sprach ihn eine rau kratzende Stimme an. Sein Sarg öffnete sich in die Dunkelheit. Davor ... er hatte um Bewusstlosigkeit gefleht, endlos ... im Dröhnen und Mahlen von Maschine und Rädern, in dem jeder Ton im Lärm versank, in eine Ausschließlichkeit ohne Klang. Irgendwann ... seine Uhr leuchtete nicht ... ein Wunder, dass sie sie ihm gelassen hatten ... oder kein Wunder, denn seine Entführer waren Nazis, und die ... fast lächelte er bei diesem Gedanken in seinem Sarg ... waren meistens dumm ... irgendwann war es tatsächlich Nacht geworden. Er blickte aus dem Kasten an zwei Köpfen vorbei auf einige glitzernde Sterne. Diese Nacht war so hell, so absurd leicht und ruhig, war Leben, Wiedergeburt.

      "Er hat die Augen offen," sagte eine zweite Stimme. Eine Frau.

      "Er rührt sich aber gar nicht" – noch eine Frau.

      "Ist er etwa hin?"

      "Quatsch. Er schnauft doch wie'n Lufttauscher. Der is' über dein nettes Gesicht so entzückt ..."

      "Ich geb' dir Gesicht."

      "Jetzt helft ihm mal da raus. Der muss 'nen Schreck weghaben. – Junge, Junge, du hast ja gewaltig die Hosen voll!"

      Er hatte die Hosen voll. Schon seit dem Überfall. Von vier unheimlichen Müttern wurde das Baby zur Welt gebracht. Er stöhnte auf, als eine ihn am rechten Arm anhob. Sie war nicht grob. Sie fasste einfach ganz normal zu, aber er war verletzt. Später verstand er, dass diese Wunde, aufgerissen an einer scharfen Kante seines Autos, ihm den Verstand gerettet hatte ... ein leise sickernder Schmerz als einziges Gegengewicht zur Hölle dieser Fahrt. Wer je auf den Gedanken gekommen war, die Hölle als große Höhle mit hellen Feuern und offenen Kesseln zu schildern, war ein optimistischer Träumer. Vorsichtig hoben sie ihn nun aus dem Kasten. Nicht überraschend. Schließlich hatten sie ihn kaum entführt, um ihn jetzt gleich umzubringen.

      Trotz dieses beruhigenden Gedankens ... mit diesen Frauen in groben, grauen Hosen und schwarzen Stiefeln und ihren nackten Oberkörpern stimmte etwas nicht! Doch mehr als eine leise


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