Taken by Berlin. Nicolas Scheerbarth

Taken by Berlin - Nicolas Scheerbarth


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ja ... das vielleicht auch ... ich meine, ich habe mir natürlich nicht über Sie persönlich Gedanken gemacht, aber die Medien bei mir zu Hause in der Ukraine erwecken den Eindruck, als hätten die Jugendlichen hier andere Dinge im Sinn als eine so ernsthafte Arbeit. Wenn nicht gleich von Bandenkriegen oder wilden ... äh ... Orgien gesprochen wird, dann sind es der Konsumrausch oder diese Menschen, die ja wohl eher Ihre Kunden sind ... also, die nur noch per SenseNet mit der Außenwelt Kontakt haben und nie den Fuß vor die Tür setzen. Oder irgendwelche politischen Wirrköpfe, diese 'Dosenöffner', oder wie sie sich nennen, die die Rechner lahmlegen und den Leuten die Häuser über dem Kopf anzünden, nur um sie zu zwingen, mal einen Spaziergang zu machen."

      "So falsch sehen Sie das gar nicht. Ich bin eher eine Ausnahme ... und das, was Sie da schildern, gibt es schon, und nicht zu selten. Bandenkriege und Orgien ... wir könnten jetzt, sofort, um diese Uhrzeit, im Rhein-Main-Gebiet herumfahren und Beispiele dafür finden. Und ich könnte Ihnen in der Hälfte der Fälle nicht versprechen, dass ich nicht Lust bekäme mitzumachen ... weil ich die eine Gang kenne oder die andere hasse. Oder weil bei der Orgie ... wir nennen es lieber 'Vollkontaktfete' ... interessante Leute dabei sind.

      Was diese Couch Potatoes betrifft, die ihre Arbeit übers SenseNet zu Hause machen, ihre Einkäufe dort ordern und allenfalls ein paar Leute in irgendwelchen Opacas kennen ... es wird mir kotzübel, wenn ich an die denke. Es gibt Menschen hier, die haben den Rekord aufgestellt und sind seit über fünfzehn Jahren nicht mehr vor ihrer Türe gewesen ... fast so lange, wie es das SenseNet gibt. Wenn der Rettungsdienst mal so einen rausholt ... weiß wie die Wand, schwammig wie 'ne Wasserleiche ... die können hier nicht mal eine Straße hinuntergehen. Die rennen sofort in ein Auto und warten dann auf die Schnellabschaltung, weil sie glauben, sie sind im Netz. Nee, manchmal kann ich die Dosenöffner verstehen, die die Leute mit radikalen Mitteln zwingen wollen, mal wieder in einen echten Park zu gehen oder in einer echten Bäckerei ein Brot zu kaufen."

      Auch Johanna und Gert Kreutzer waren im Gästezimmer in ein Gespräch vertieft, als Joschi nach dem Frühstück vorbei kam. Die Tür stand halb offen, und die beiden schienen zu glauben, allein im Haus zu sein ... oder scherten sich nicht darum.

      "Vor allem stinkt es mir, dass wir Adrian oder Bianca jedes Mal erst bitten müssen!" – Johannas Stimme.

      "Na, bei Adrian geht das ja noch. Aber seine Frau ... wir waren nie glücklich über diese Ehe ... meine Eltern nicht, und seine auch nicht. Aber damals war die Zeit ja schon lange vorbei, in der man irgendwen um Erlaubnis gefragt hat beim Heiraten. Und dann hat jeder gehofft, dass es nicht lange hält ... die Scheidungsraten waren da schon fast so hoch wie heute bei den sogenannten unbefristeten Verträgen. Erinnerst du dich noch an den Brief von Mutter, als wir etwa zwei Jahre unten waren ... als Bianca mal eben so ein paar Monate mit diesem Typ durchgebrannt ist ... was haben wir da alle gehofft ..."

      "Du solltest doch deinen Cousin kennen! Er ist ein Träumer, ein Idealist. In dieser Familie hier haben die Frauen die Hosen an ... wenn nicht noch mehr ... wenn ich allein an dieses Mädchen denke, krieg ich schon zu viel ..."

      "Allerdings. Mir fällt jedes Mal ein Stein von der Brust, wenn dieses aufgeblasene Miststück wieder verduftet. Wenn ich die schon sehe ..."

      "Ich weiß, Gert, du bekommst jedes Mal Stielaugen, wenn sie ihre nackten Titten vor dir herumschwenkt ... erzähl mir doch nichts! Sie soll sich bloß von meinen Kindern fernhalten. Eigentlich will ich mich auch gar nicht mit den ganzen schmutzigen Einzelheiten hier in deiner Familie beschäftigen. Ich will hier raus ... darauf kommt es an! Du musst bei deinem Cousin endlich mal deutlicher werden. Wir müssen häufiger ins Netz! Ich nehm' ihm das auch nicht mehr ab ... dass das wegen der Zeitung nicht geht. Ich wette mit dir, dass er dort nie gefragt hat. Ein anderer an seiner Stelle hätte denen klargemacht, dass wir in einer Notlage sind."

      "Red' du doch mit ihm, Joan! Du weißt doch, wie er dann reagiert! Ich soll uns auf eine Warteliste für einen dieser stinkenden Ameisenhaufen setzen lassen, dieser Wohnkomplexe ... seinen eigenen Cousin ... das ist wirklich die Höhe. Wusstest du eigentlich, dass wir uns die Einliegerwohnung abschminken können? Sobald dieser Türke da raus ist, sollen die Russen dort einziehen."

      "Wie bitte? Das ist ja wohl ..."

      "Ist doch klar. Die zahlen ... oder vielmehr die Firma von dem Typ zahlt. Da ist für Verwandte kein Platz mehr. Hast du mal gesehen, wie freundlich sie alle um die rum sind ... er, Bianca, dieser hochnäsige Sohn und sogar Riss ... wie sich ein Mädchen nur 'Riss' nennen kann ... dabei hat sie allenfalls einen Riss in der Schüssel."

      "Moment! Jetzt erklär' mir das nochmal genau: Diese Leute ziehen also hier richtig vornehm ein, und wir leben weiterhin in diesem Taubenschlag aus unseren Koffern?"

      "So ist es. Und als er mir das klargemacht hat, hockte seine holde Gattin daneben wie die Königin von Saba und passte auf, dass er sich's ja nicht noch mal anders überlegt."

      Joschi spürte eine Hand auf seiner Schulter.

      "Mach' dir nicht die Ohren schmutzig, Josch," flüsterte Clarissa. Ihr Griff und der Klang ihrer Stimme ließen ihn wohlig schauern. "Die wissen es nicht anders. Natürlich wollen wir sie loswerden. Aber was sie nicht kapieren ist, dass meine Eltern sie einfach rauswerfen könnten. Weißt du, Menschen sind so. Nicht alle, aber viele ... viel zu viele. Sie denken, sie wären im Recht. Sie denken, sie wären die einzigen, die wirklich zählen. Und sie halten sich für ganz normal, ja sogar für nett ... selbstzufrieden, wie sie sind ... zum Kotzen. Ich glaube, du verstehst das."

      Die leicht raue, sehnige Hand auf seiner Schulter jagte Stromstöße durch seinen Körper. Er musste jetzt etwas sagen ... irgendetwas einigermaßen Intelligentes! Das war seine große Chance, das erste Mal, sie direkt anzusprechen ... mit mehr als einer unverbindlichen Floskel.

      "Glaub' ... schon," presste er heraus. "Sie sind ... irgendwie ... beschränkt. Sie ... sie denken nicht an andere, ich meine, sie wissen gar nicht, dass andere Leute Dinge einfach anders sehen." Zu seiner eigenen Überraschung strömten die Worte plötzlich ... fand er es ganz natürlich, Riss in das Resultat seiner erst kürzlich entdeckten Beobachtungsgabe einzuweihen, Schicht um Schicht tiefer zu gehen in der Analyse menschlichen Verhaltens ... den glühend beglückenden Griff ihrer Hand auf seiner Schulter, im Haus ihrer Eltern flüsternd im Korridor wie Verschwörer ... oder ein geheimes Paar. "Ich glaube, die haben nie so über Menschen nachgedacht und über sich selbst, wie du das vorhin beschrieben hast bei deinem Job, wenn du auf die Leute zugehst, die du interviewen willst ... ich meine, ich stell mir das so vor ... wie das genaue Gegenteil von dem, was die da machen."

      Und während er es aussprach, merkte er, dass sie so war wie er ... eine Fremde ... von Berufs wegen ... überall dabei und durch das Camset doch von allen getrennt ... einsam hinter dem Kameraauge.

      "Ja, da könntest du recht haben. Doch! Das ist ein guter Vergleich ... mit meiner Arbeit das. Sie haben viel verloren ... Luxusscheiß, weißt du ... ein Haus hier, eine Hütte da, ein Apartment dort. Mein Onkel war ein großer Fisch am Golf von Carpentaria. Natürlich hätten sie dort bleiben können. Gert ist gut in seinem Job, und die Indonesier haben soviel zerdeppert, dass genug zum Aufbauen da wäre. Aber er ist feige, bequem, verwöhnt ... ein Arschloch. Meine Mutter hat sie schon angemeldet. Die wissen es noch nicht, aber in spätestens zwei Monaten sind sie draußen ... in einem wunderschönen kleinen Komplex, mit 'nem Kräutergarten irgendwo im 48. Stock und dreißigtausend netten Nachbarn."

      "Könnt ihr das einfach tun?"

      "Naja ... einfach ... einfach ist es nicht. Mit einem Haus dieser Größe hast Du gewisse Pflichten heute. Aber nominell wohnen die Frau von Yelmaz und meine Großmutter mit im Haus. Und wir sind ein Protec ... Du weißt, was ein Protec ist?"

      "Ja."

      "Es ist absolut asozial, aber um diese zwei hier loszuwerden, kann ich damit leben. Du kannst jemanden ohne Job oder eigene Wohnung erst mal vom Sicherheitsdienst rauswerfen lassen. Dann müssen sie sich über Unionsgesetz wieder reinklagen. Aber wenn du das lange genug hinziehst, haben sie keine Chance mehr, denn sie müssen ja während des Verfahrens irgendwo bleiben, und ein Hotel wäre viel zu teuer. Damit haben sie dann einen Wohnsitz außerhalb und keinen Anspruch mehr auf einen dieser Flüchtlingsparagraphen."

      "Wo


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