Der neue Sonnenwinkel Box 7 – Familienroman. Michaela Dornberg
sich machen zu lassen, oder ein Film musste zum Entwickeln weggebracht werden.
Und weil es gerade so gemütlich war, blieb Tim einfach bei den beiden Mädchen, und die brachten es einfach nicht übers Herz, ihn wegzuschicken. Vielleicht war das auch gut so, in seiner Gegenwart mussten sie sich zusammenreißen, konnten nicht weinen. Was sollte Tim denn sonst von ihnen denken, schließlich waren sie älter.
Aber das machte nichts, denn wenn sie an ihren Abschied dachten, dann flossen die Tränen ganz von selbst.
Abschiede waren wirklich schrecklich …
*
Der neue Besitzer des Herrensitzes hatte sich noch nirgendwo vorgestellt, doch er hatte es ziemlich eilig, denn Bäume wurden abgeholzt, und die Dependance war bereits den Baggern gewichen, dieses wunderschöne mit sehr viel Liebe und sehr viel Geld gebaute Haus.
Daran durfte man überhaupt nicht denken, vor allem würde es noch viel schlimmer sein, wenn sich die Bagger erst einmal in das Herrenhaus fraßen.
Welch ein Glück, dass man es nicht sehen, sondern nur hören und es sich nur vorstellen konnte.
Es war alles abgesperrt, fast schien es, als solle dort oben eine Welt für sich entstehen.
Werner nahm es, wie es schien, ziemlich gelassen. Doch Inge nahm es mit. Sie gehörte eher zu den Menschen, für die es wichtig war, etwas zu erhalten. Und da oben war alles erhaltenswert.
Für Inge war es so, als würde dem Sonnenwinkel das Herzstück genommen. Das Herrenhaus, die Dependance, das waren Institutionen gewesen, wenigstens früher, als die alten Besitzer noch da gelebt hatten. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sich mit dem Grafen Hilgenberg vieles geändert. Er hatte sich schon abgegrenzt, aber immerhin hatte er, wenn auch nicht über das Grundstück am Herrenhaus vorbei, allen einen Zugang zur Felsenburg geschaffen.
Vorbei …
Das war für immer vorbei.
Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, das tat einfach zu weh. Sie hatte genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, von denen noch das kleinste war, dass ihre Pamela ganz schrecklich darunter litt, dass die Bredenbrocks wegziehen würden. Maren und sie hatten sich so richtig gut angefreundet.
Da war noch ihr Hannes, der kein einziges Lebenszeichen von sich gab. Klar, er hatte ausdrücklich gesagt, dass er sich nicht melden würde. Doch er war nun schon so lange fort, wenigstens ein Kärtchen, eine Mail, ein paar Worte. War das zu viel verlangt? Während seiner Weltreise war er an den entferntesten Winkeln gewesen, und dennoch hatte er es immer geschafft, sich irgendwie zu melden.
Wie es ihm wohl ging?
Ob er einen Weg für ein weiteres Leben gefunden hatte, oder irrte er ziellos herum?
Nein, nein, nein!
In solche Gedanken wollte sie sich nicht verlieren. Das würde sie noch mehr beunruhigen.
Schließlich war das nicht ihre einzige Baustelle, die ihr den Schlaf raubte.
Jörg …
Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie sah, wie er litt.
Er hielt sich nun schon ein paar Tage in seinem Elternhaus auf, doch Inge wurde das Gefühl nicht los, dass es mit ihm immer schlimmer wurde.
Er litt!
Er war wortkarg!
Er aß kaum etwas, wurde immer schmaler. Sie würde so gern mit ihm reden, doch ihre Mutter sagte, sie solle den Jungen in Ruhe lassen, wenn er etwas zu sagen habe, dann würde er es auch tun.
Inge liebte ihre Mutter über alles. Manchmal konnte sie diese allerdings nicht verstehen. Wie konnte sie still sein, wenn sie sah, wie schlecht es Jörg ging?
Inge war sehr entschlossen, auf niemanden mehr zu hören, sondern sie wollte sich nur auf sich verlassen, wie damals, als alle auch dagegen geredet hatten. Sie hatte sich nicht beirren lassen, sondern hatte Pamela den langen Brief geschrieben, mit dem Ergebnis, dass Pamela nach Hause zurückgekehrt war.
Eigentlich konnte Inge sich auf ihre Intuition verlassen. Und es gab auch Dinge im Leben, die musste man mit niemandem absprechen. Wenn man sich sicher war, konnte man auch Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen. Und Inge war sich sicher. Sie sah, sie spürte die Hilferufe ihres Großen.
Was immer die anderen auch sagten, sie würde nicht mehr darauf hören, keine Rücksicht mehr nehmen.
Sie würde mit Jörg reden!
Sie wusste nicht, wo er sich aufhielt, er kam und verschwand wieder, ganz wie er es wollte.
Und noch während sie ganz intensiv an ihn dachte, ging die Tür auf, Jörg trat ins Zimmer, sehr ernst, aber irgendwie auch gefasst.
»Mama, gut, dass du da bist. Ich muss unbedingt mit dir reden«, sagte er.
Inge merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, was gleich kommen würde, das würde mehr als nur ein Mutter-Sohn-Gespräch sein …
Die gemütliche Wohnküche war der Lieblingsort aller Auerbachs. Und welche Schlachten waren hier nicht schon geschlagen worden. Es hatte Lachen und Weinen gegeben, Diskussionen. Was hatte der große Familientisch nicht alles schon gesehen.
Es war auch überhaupt kein Wunder, dass Jörg Auerbach sich wie selbstverständlich zu seiner Mutter an genau diesen Tisch setzte. Sie hatte sich viele Sorgen um ihren Ältesten gemacht. Dazu gab es auch mehr als nur einen Grund. Ein Familienmensch, und das war Jörg nun mal, hatte schwer daran zu tragen, von seiner Frau verlassen zu werden, und dass die dann auch noch die Kinder mitgenommen hatte in ihr neues Leben in Belo Horizonte, das war grauenhaft. Wie glücklich war Inge gewesen, dass Jörg eine neue Partnerin gefunden hatte. Und dass er jetzt unglücklich war, das hatte er allein zu verantworten. Er hatte sich von Charlotte getrennt, weil deren Sohn ihm immer wieder bewusst gemacht hatte, wie sehr er seine eigenen Kinder vermisste.
Es war eine schreckliche Situation, Inge hatte mit Jörg reden wollen, weil sie es unerträglich fand, wie sehr er litt und sich aufrieb. Und nun war er ihr zuvorgekommen. Er wollte mit ihr reden.
Jörg sah noch immer sehr mitgenommen aus, doch irgendwie wirkte er entschlossen, und er sah nicht mehr so erloschen aus. Das erleichterte Inge sehr. Mütter litten immer mit ihren Kindern, ganz egal, wie alt sie waren. Und Mütter wollten für ihre Kinder immer nur das Beste.
»Möchtest du einen Kaffee, Jörg?«, erkundigte sie sich, denn der stand bei den Auerbachs immer bereit.
»Ja, Mama, gern, und wenn du dann auch noch etwas Süßes dazu hast, da würde ich nicht nein sagen.«
Auch das war bei den Auerbachs kein Problem, und das lag in erster Linie an Werner. Der Professor war eine richtige Naschkatze, und den konnte man strafen, wenn er zu seinem Kaffee nichts Süßes bekam.
Werner war mit seinem Schwiegervater unterwegs, Pamela war in der Schule. Ihre Mutter konnte auch nicht hereinplatzen, die arbeitete heute ehrenamtlich im Hohenborner Tierheim.
Sie waren also allein und ungestört, und Inge ahnte, dass Jörg ihr etwas Folgenschweres sagen wollte. Sie hatte ein wenig Angst davor. Vermutlich trödelte sie deswegen, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, ein wenig herum. Doch immer konnte sie ihm nicht ausweichen. Sie stellte Kaffee und Kuchen auf den Tisch und setzte sich, beinahe mit einer Gottergebenheit. Sie hatte Angst vor dem, was kommen würde. Dabei war es doch genau das, was sie hereinbesehnt, was sie selbst vorgehabt hatte, mit ihm zu reden. Vielleicht hätte sie es wirklich getan, vielleicht hätte sie es auch hinausgezögert, was leider ihre Art war. Jetzt hatte Jörg die Regie in die Hand genommen, und er ließ sich Zeit, trank Kaffee, aß genüsslich etwas von dem Kirsch-Streuselkuchen, lobte ihn. Wenn man so wollte, war es eine Situation, wie sie öfters vorkam.
Und dann ließ Jörg die Bombe platzen.
»Mama,