Der neue Sonnenwinkel Jubiläumsbox 3 – Familienroman. Michaela Dornberg
Natürlich hatte sie nichts davon, und natürlich wäre es am besten, den Zwischenfall so rasch wie nur möglich zu vergessen. Es war ja schon grenzwertig, dass die Begegnung mit einem Mann sie so sehr aus der Bahn brachte.
Nicht mit einem Mann …
Ja, genau das war es, dieser Typ war unglaublich gewesen, sein Lächeln, seine Lässigkeit, vor allem den Blick aus seinen unglaublich blauen Augen würde sie nie vergessen. Aber genau das sollte sie.
Roberta war froh, vor ihrer Praxis angekommen zu sein, wo sie schon erwartet wurde.
»Frau Doktor, wo waren Sie?«, erkundigte Ursel Hellenbrink sich besorgt, weil sie ein Zuspätkommen ihrer Chefin überhaupt nicht kannte. »Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht, zumal ich Sie auch auf Ihrem Handy nicht erreichen konnte.«
Das hatte Roberta klingeln lassen, aber das musste sie ihrer Mitarbeiterin jetzt nicht sagen.
»Ich erzähle Ihnen später alles, Ursel«, sagte Roberta, »alles ist gut. Wir können mit der Sprechstunde beginnen.«
Sie ging in ihr Zimmer, wusch sich die Hände, und da trat auch schon die erste Patientin ein.
»Guten Tag, Frau Brummer. Sie sehen ja schon so viel besser aus«, begrüßte Roberta die erste Patientin des Nachmittags.
Frau Brummer strahlte.
»Es geht mir ja auch schon so viel besser«, bestätigte sie. »Ich glaube, die neuen Tabletten sind die richtigen für mich, ich spüre nichts von all den Nebenwirkungen, die auf dem Beipackzettel stehen.«
Die Nebenwirkungen …
Man durfte nicht alles auf dem Beipackzettel lesen, denn manche Patienten bekamen Befürchtungen, wenn sie etwas lasen, überlasen dabei jedoch, dass manche dieser Nebenwirkungen in einem von zehntausend Fällen auftreten konnten, nicht mussten.
»Das freut mich, Frau Brummer, dann bleiben wir erst einmal bei diesem Medikament, und da Sie regelmäßig zu mir kommen, können wir es ganz wunderbar unter Kontrolle behalten.«
Frau Brummer blickte Roberta ganz treuherzig an.
»Ach, wissen Sie, Frau Doktor, ich weiß nicht so recht, ob ich mir wünschen soll, recht schnell wieder ganz gesund zu werden. Denn das bedeutet ja, dass ich nicht mehr zu Ihnen kommen kann. Es tut so gut, dass Sie sich auch meine anderen Sorgen anhören, und mit denen kann ich ja dann nicht mehr zu Ihnen kommen.«
Roberta lächelte ihre Patientin an.
»Liebe Frau Brummer, das ist auch so etwas, Sie machen sich zu viele unnötige Sorgen. Daran müssen wir auch noch arbeiten, und dazu haben wir Zeit, weil es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ich Sie als gesund entlassen kann. So, und jetzt messe ich erst einmal Ihren Blutdruck, einverstanden?«
Ihre Patienten waren zum Glück ihre Rettung, die sie so irritierenden blauen Augen traten immer mehr in den Hintergrund, und das war gut so.
*
Henrike Rückert, von allen nicht anders als Ricky genannt, saß an ihrem Küchentisch und starrte vor sich hin. Sie merkte nicht einmal, dass ihr Kaffee ganz kalt geworden war.
Sie kam sich nutzlos vor.
Ihre Kinder waren außer Haus. Sie langweilte sich, weil sie nicht andauernd das Haus putzen konnte, zumal sie dafür eine Hilfe hatte.
Ricky war ein spontaner Mensch, sie machte ihr Ding und zog es durch. So kannte man sie, und ihre Schwägerin Stella bewunderte sie für diese Konsequenz. Aber augenblicklich fragte Ricky sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihr Studium abzubrechen.
Sie war so beeindruckt gewesen von ihrer Mieterin, dieser Gerda Schulz, die alles auf sich genommen hatte, damit ihre Tochter glücklich war.
Und das hatte ihr ein schlechtes Gewissen gemacht. Immerhin war sie für ihre Kinder eine fürsorgliche Mutter, und ein Studium von Deutsch und Biologie war nicht unbedingt ein Spaziergang durch einen Rosengarten. Junge Leute, die direkt nach dem Abitur mit dem Studium anfingen, die hatten es wesentlich leichter als eine engagierte, leidenschaftliche Mutter, die irgendwann einmal auf den Gedanken gekommen war, dass Hausfrau und Mutter sein nicht alles sein konnte. Sie war eine begeisterte Studentin gewesen, es hatte ihr unendlich viel Spaß gemacht, aber ihr war bewusst geworden, dass man sich selbst nicht verwirklichen konnte, wenn es auf die Kosten Anderer ging. Und die Anderen waren ihr Mann und ihre Kinder. Es hatte Anzeichen dafür gegeben, dass das wahre Leben anders war als das, was man in seinem Kopf hatte.
Schlimm war nur, dass sie jetzt, da sie hingeworfen hatte, nicht mehr das Gefühl hatte, dass es ohne ihre ständige Präsenz nicht gegangen wäre.
Fabian war voll beschäftigt mit seiner Funktion als Direktor des Goethegymnasiums, und die Kinder, die machten ihr Ding und schienen nicht zu bemerken, ob sie da war oder nicht.
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hatte sie das spannende Studium aufgegeben?
Es zerriss sie beinahe, und Ricky wusste augenblicklich nicht, ob es wirklich so war, oder ob sich da in ihrem Kopf gerade etwas abspielte, das so überhaupt nicht gut war.
Sie musste mit Fabian reden!
Und das hatte keine Zeit bis zum Nachmittag oder bis zum Abend, es musste jetzt geschehen.
Ricky blickte auf ihre Armbanduhr.
Wenn sie sich beeilte, würde sie gerade zu seiner Freistunde in der Schule ankommen, und sie wusste, dass Fabian da überhaupt kein Problem damit hatte, sich ihre Probleme anzuhören. Er kannte das schon, und er ging sehr gelassen damit um. Wenn er frei hatte, war alles kein Problem, er wäre nur ungehalten, wenn sie ihn mitten in seiner Arbeit stören würde. Aber das würde sie niemals tun, das kannte sie schon von ihrem Vater. Professor Auerbach war immer für seine Familie da, aber wenn er arbeitete, dann arbeitete er, und da wollte er nicht gestört werden, und daran hatten sie sich alle immer gehalten, auch ihre Mutter.
Ja, es war eine gute Idee, mit Fabian zu reden.
Ricky band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, so kannte man sie, und so lief sie meistens herum. Nur daheim trug sie ihre Haare offen oder zwirbelte sie irgendwie am Hinterkopf zusammen.
Da sie sehr schlank war, konnte sie gut enge Hosen tragen. In ihrer Jeans, dem lässigen Pullover sah sie eher wie eine unbekümmerte junge Studentin aus, aber niemals wie die Mutter einiger liebreizender Kinder.
Ricky überlegte kurz, wenigstens ein wenig Rouge aufzulegen, weil sie ziemlich blass war. Doch dann ließ sie es sein, sie hatte keine Zeit dazu. Im Übrigen kannte Fabian sie so, wie sie war, und so gefiel sie ihm, und sie wollte jetzt auch nicht zu ihrem Mann, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, sondern um mit ihm zu reden.
Sie griff nach ihrer Tasche, zog im Hinauslaufen eine Lederjacke an, dann rannte sie zu ihrem Auto und fuhr auch sofort los.
Fabians Freistunde hatte begonnen, fünf Minuten würde sie mindestens brauchen, um zu ihm zu kommen. Zum Glück musste man sich an der Schule keinen Parkplatz suchen, die waren zur Genüge vorhanden.
Als Ricky an dem großen, ehrwürdigen Gebäude ankam, immerhin war das Goethegymnasium über die Stadtgrenze hinaus bekannt und gesucht, viele Bewerber mussten abgewiesen werden, fuhr direkt neben dem Hauptportal jemand weg. Ricky kannte den Fahrer und winkte ihm freundlich zu. Es war Doktor Redlich, ein Mathelehrer, den seine Schüler gern mochten. Er war beliebt und verschaffte sich bei allen Autorität. In seinen Klassen gab es niemals Ärger, dafür sorgte er, und er war dazu ein ganz hervorragender Pädagoge, der es verstand, seinen Schülern selbst trockene Lehrstoffe spannend zu vermitteln.
Schade, dass er gerade wegfuhr, und schade, dass ihre Zeit so bemessen war. Sie hätte sich sehr gern mit Doktor Redlich unterhalten.
Ricky stellte den Motor ab, stieg aus, dann eilte sie die Stufen empor und ging in die Schule.
Das Zimmer des Direktors befand sich auf der ersten Etage, und Ricky wusste, dass sie ungehindert zu ihrem Mann durchgehen konnte, weil seine Sekretärin die allgemeinen Pausen stets dazu nutzte,