Der neue Sonnenwinkel Box 2 – Familienroman. Michaela Dornberg
immer, und das war auch gut so, denn Bambi hatte nicht einmal Lust, mit Luna zu spielen. Und das bedeutete schon etwas. Sie hatte Luna mittlerweile beinahe so gern wie ihren Jonny.
Was sollte sie jetzt tun?
Mit dem Satz ›mir fällt das Dach auf den Kopf‹ hatte Bambi bislang nie etwas anfangen können. Jetzt bekam sie eine Ahnung, was das bedeutete.
Eigentlich müsste sie Mathe lernen, weil sie morgen eine Klausur schrieben. Aber wie sollte das denn gehen?
Manuel fiel ihr ein.
Oh ja, sie würde hinauf auf den Erlenhof gehen. Dass sie nicht gleich darauf gekommen war. Manuel war ihr Freund, und er würde sie sehr gut verstehen, denn in der Kindheit war er nämlich der Dritte im Bunde gewesen, und Manuel gefiel es auch überhaupt nicht, dass Hannes nur eine kurze Stippvisite im Sonnenwinkel gegeben hatte, auch wenn er das nicht wirklich zugeben würde.
Und sollte Manuel nicht daheim sein, würde sie entweder seiner Mutter einen Besuch abstatten oder gleich hinüber ins Herrenhaus zu Marianne von Rieding gehen. Die hatte immer etwas Süßes im Haus, und das gab sie sehr freizügig her.
Bambi zog ihre Schuhe und vorsichtshalber ihre Regenjacke an.
Noch regnete es nicht, doch der Himmel war bleigrau und verhangen. Er sah genauso aus, wie es in ihr war.
Und auch bei diesem schlechten Wetter war der Sonnenwinkel wunderschön. Warum sah Hannes das nicht? Was sie über Australien wusste, war nicht vielverspechend, auf jeden Fall gab es da ganz gewiss nicht so viel Grün wie hier, und auch wenn sie Wasser hatten, nichts konnte so schön sein wie der Sternsee.
Bambi überlegte für einen Augenblick Luna mitzunehmen, doch die hatte offensichtlich keine Lust, der rote Ball interessierte sie mehr. Aber vielleicht war das ja auch nur die Strafe dafür, dass sie Luna ein wenig vernachlässigt hatte, als Hannes hier gewesen war.
Bambi schloss umsichtig das Tor ab, damit Luna nicht davonlaufen konnte, dann lief sie Richtung Erlenhof.
Trotz des diesigen Wetters erhob sich in dem grauen Himmel stolz die Ruine Felsenburg.
Für einen Augenblick vergaß Bambi ihr Herzeleid, als sie sich daran erinnerte, wie sie zusammen mit Hannes und Manuel darin herumgestrolcht war, wie sie sich die abenteuerlichsten Geschichten ausgedacht hatten, die manchmal so realistisch gewesen waren, dass sie Angst bekamen. Nun, wenn sie ehrlich war, Angst hatten nur sie und Manuel gehabt, Hannes war auch damals schon cool gewesen, ganz so, wie es auf seinem T-Shirt stand, das er zurückgelassen hatte.
Wie schön das alles doch gewesen war, dachte Bambi ganz sehnsuchtsvoll.
Auch die Felsenburg, die gab es sonst auch nirgendwo. Diesmal war Hannes nicht einmal oben gewesen.
Hatte er sich wirklich schon so weit von den Stätten seiner Kindheit entfernt?
Das würde sie nie tun, sie würde immer in der Nähe ihrer Eltern und ihrer Großeltern bleiben, und wenn sie nach dem Abitur einen Studienplatz irgendwo bekommen sollte, wo sie pendeln konnte, dann würde sie den nehmen. Und wenn man ihr, so wie Hannes, sogar ein Stipendium an der Columbia anbot, würde sie darauf pfeifen. Hatte er auch, aber nicht, um im Sonnenwinkel zu bleiben.
Bambi musste sich sehr zusammenreißen, um jetzt nicht anzufangen, erneut zu weinen. Sie hatte schon genug geheult.
Außerdem …, was sollten die Münsters oder Frau von Rieding oder der nette Herr Heimberg von ihr denken? Und vor Manuel wollte sie auch keine Heulsuse sein, obwohl er das am ehesten verstehen würde.
Bambi wollte gerade die Straße überqueren, um hinauf zum Erlenhof zu wandern, als der Bus um die Ecke gebogen kam.
Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich auf einmal alles anders überlegte.
Ihr fiel ein, dass Hannes ihr doch zwanzig Euro geschenkt hatte, damit sie, wenn der Abschiedsschmerz zu groß wurde, nach Hohenborn fuhr, um sich einen dicken Eisbecher zu kaufen.
Sie tastete in ihre Jackentasche, sie hatte die zwanzig Euro dabei, und ihre Monatsfahrkarte für den Bus führte sie eh immer bei sich.
Oh ja, sie würde zu Calamini gehen und Eis essen, und wenn es neben dem Eisbecher auch noch eine Waffel mit ganz viel Sahne und heißen Kirschen sein musste.
Zwanzig Euro waren eine ganze Menge Geld, und man konnte viel dafür kaufen.
Die Bushaltestelle war gleich um die Ecke. Das schaffte sie locker, außerdem kannte sie den Busfahrer, der würde auf sie warten.
Vorsichtshalber winkte sie ihm zu, er winkte lachend zurück. Alles unnötig, sie war vor dem Bus an der Haltestelle.
Bambi war noch immer unglücklich, aber ein klitzekleines bisschen freute sie sich.
»Musst du noch mal in die Schule?«, erkundigte der Busfahrer sich mitleidig. »Ihr habt manchmal auch wirklich einen langen Tag. Ich bin froh, dass ich nicht mehr in die Schule gehen muss. Ich glaub, ich könnt das auch alles nicht mehr, was ihr da lernen müsst.«
Bambi erzählte ihm, dass sie nicht in die Schule musste, sondern einfach nur nach Hohenborn wollte, und dann erzählte sie ihm auch noch, dass Hannes nach Australien geflogen sei, und ihre Eltern ihn zum Flughafen brachten.
»Und du bist nicht mitgefahren?«, wollte er wissen.
Bambi erzählte ihm, dass sie Abschiede hasste, und das konnte er gut verstehen, er hasste sie nämlich auch. Dann erzählte er ihr, dass er eine Schwester in Argentinien hatte, die vor Jahren dorthin ausgewandert war.
»Ich habe sie seither nur einmal gesehen. Sie hat keine Lust mehr auf Deutschland, und mir ist der Flug zu weit und zu teuer. Aber wenn sie glücklich ist, dann muss ich das alles wohl akzeptieren.«
Sie mochte diesen netten Busfahrer, der immer freundlich war, der auch hier und da ein Auge zudrückte und auf Schüler wartete, wenn sie sich verspäteten. Und das tat er, obwohl er eigentlich seinen Fahrplan einhalten musste.
Jetzt mochte sie ihn noch mehr, jetzt waren sie praktisch Leidensgenossen. Seine Schwester in Argentinien, ihr Bruder in Australien.
Es ging ihr sogar ein wenig besser.
Bambi erinnerte sich daran, dass ihre Omi immer sagte: »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Das schien tatsächlich zu stimmen.
*
Bambi war erstaunt, dass das Calamini richtig gut besucht war, dabei war es doch überhaupt keine Zeit für eine Eisdiele. Das mochte allerdings auch daran liegen, dass man neben den Waffeln in verschiedenen Variationen auch Sandwiches essen konnte und andere Kleinigkeiten.
Bambi sah sich um, zum Glück entdeckte sie niemanden, den sie kannte. Sie hatte keine Lust, mit jemandem zu reden, heute nicht.
Und damit sie nicht doch noch jemand entdeckte, setzte sie sich in eine der kleinen Nischen, in denen man ungestört war. In die setzten die Schüler des Hohenborner Gymnasiums sich immer hin, wenn sie Freistunden zu überbrücken hatten und lernen wollten oder eine Hausaufgabe machen mussten, auf die man keine Lust gehabt hatte.
Bambi ließ sich ausgiebig Zeit, die große bunte Karte zu studieren. Was sollte sie nehmen? Ein Eis oder doch eine Waffel?
Die Bedienung trug gerade eine vorbei, und die sah verheißungsvoll aus.
Schon tendierte sie zu der Waffel, als sie sich dann im letzten Augenblick für den Megaeisbecher entschied, den sie immer schon hatte probieren wollen, der ihr stets zu teuer gewesen war.
Jetzt konnte sie großzügig sein, sie hatte zwanzig Euro.
Ach, ihr Hannes, der war nicht nur superlieb, nein, der war auch ganz schön großzügig.
Als die Bedienung kam, bestellte sie noch etwas anderes, nämlich den Überraschungsbecher, den hatte sie auch noch nicht probiert, und der sah jedes Mal anders aus.
Hoffentlich packte man ihr besonders gute Schleckereien in den Becher.
Ihr ging es