Der neue Sonnenwinkel Box 2 – Familienroman. Michaela Dornberg
hatte die Frau Doktor recht, und sie sollte zu einem Psychiater gehen. Es gab vieles in ihr, was sie verdrängt hatte, was von ihr in die dunkelsten Schubladen gesteckt worden war, und nun schien es ihr wirklich um die Ohren zu fliegen, und sie konnte damit nicht umgehen.
Sie hatte alles dafür getan, wer zu sein, zur Gesellschaft zu gehören. Das war ihr gelungen, doch welchen Preis hatte sie dafür gezahlt?
Darüber wollte Rosmarie jetzt nicht nachdenken, diese Wahrheit würde sie nicht verkraften.
Eines war auf jeden Fall sicher, alles, was wirklich zählte im Leben, das hatte sie leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Würden Stella und Fabian ihr verzeihen?
Würde sie einen Weg zu ihnen finden, oder war der für immer versperrt?
Darüber hatte Rosmarie niemals nachgedacht, und als sie jetzt ganz vorsichtig damit begann, verursachte es ihr Magenschmerzen.
Sie war ein schrecklicher Mensch!
Zu dieser Erkenntnis wäre sie ohne Cecile nicht gekommen, und das zu wissen, tat ziemlich weh.
*
Als Rosmarie vor der Haustür ihrer Tochter Stella stand, zögerte sie einen Augenblick, dann drückte sie entschlossen auf den Klingelknopf, und wenig später wurde ihr geöffnet.
Wie nicht anders zu erwarten gewesen, war Stella daheim.
»Du, Mama?«, erkundigte sie sich. »Ist etwas passiert?«
Die Frage war nicht unberechtigt, denn Rosmarie kam niemals einfach nur so vorbei. Man konnte die wenigen Male zählen, die sie überhaupt gekommen war. Selbst bei den Geburtstagen der Kinder hatte sie meist Ausreden erfunden.
Rosmarie wurde verlegen, und das bedeutete wirklich etwas.
»Nein, ich …, äh …, ich war gerade in der Nähe«, was natürlich gelogen war, »und da dachte ich …, dass …, wir …, nun ja, vielleicht einen Kaffee zusammen trinken können?«
Stella war so perplex, dass sie zunächst einmal nichts sagen konnte. Ihre Mutter kam einfach auf einen Kaffee vorbei? So etwas musste man im Kalender rot anstreichen. Aber in der letzten Zeit war einiges geschehen, dass sie sich eigentlich nicht wundern durfte. Seit Cecile mit ihr zusammen aufgetaucht war, war ihre Mutter anders geworden, und das hatte nichts damit zu tun, dass sie sich kaum noch schminkte, was ihr übrigens ganz hervorragend stand. Ihr Gesicht wirkte jetzt nicht mehr so maskenhaft, sondern weicher.
Stella riss sich zusammen.
»Komm rein, Mama. Es ist schön, dass du da bist«, sagte Stella, und das meinte sie sogar so.
Stella führte ihre Mutter in das große, modern eingerichtete Wohnzimmer, in dem es als Highlight einen schönen alten Schrank gab, den Stella von ihrer Erbtante Finchen geerbt hatte und jetzt in Ehren hielt.
Der Schrank erinnerte Rosmarie daran, wie wütend sie gewesen war, dass Finchen sie alle nicht nur an der Nase herumgeführt hatte, indem sie vorgab, eine arme Frau zu sein. Nein, sondern dass sie Stella zu ihrer Alleinerbin eingesetzt hatte. Sie hatte das Erbe für sich in Anspruch nehmen wollen, dabei war Stella es gewesen, die sich rührend um Finchen gekümmert hatte, die für sie einkaufen war, sie besucht hatte, und es hatte kein Fest gegeben, zu dem Stella Tante Finchen nicht geholt hatte.
Rosmarie wollte nicht mehr daran denken, wie sie sich gebärdet und wie sie ihrer eigenen Tochter die Erbschaft geneidet hatte.
»Mama, setz dich doch. Was möchtest du trinken? Einen ganz normalen Kaffee, Espresso oder einen Milchkaffee. Du kannst auch Tee haben.«
Rosmarie winkte ab.
»Das mit dem Kaffee war nur vorgeschoben, Stella«, sagte Rosmarie, »eigentlich bin ich gekommen, um …«, sie machte eine kurze Pause, weil es schon schwer war, Eingeständnisse zu machen, auch wenn sie stimmten.
»Mama, was auch immer der Grund für deinen Besuch ist«, sagte Stella, »ich freue mich, dass du da bist. Und weißt du was? Ich koche uns jetzt doch einen Kaffee. Auch wenn es noch nicht wirklich die Zeit ist. Ich habe gerade deinen Lieblingskuchen gebacken, davon solltest du ein Stück probieren, und wenn du magst, kannst du für dich und Papa auch noch etwas mitnehmen.«
Sagte es und verließ das Wohnzimmer, Rosmarie blieb allein zurück. Stella war wirklich ein guter Mensch. Eine solche Tochter hatte sie überhaupt nicht verdient.
Während Stella draußen war, sah Rosmarie sich um. Das Wohnzimmer war geschmackvoll eingerichtet, aber man sah, dass hier gelebt wurde. Da lag ein Kinderspielzeug herum, der Bezug des einen Sessels war an einer Armlehne leicht abgeschubbert. In der Nähe der Terrassentür standen ein Kindertisch und zwei Stühle, daneben eine Spielzeugkiste.
Die Kinder gehörten dazu, das war nicht zu übersehen.
Rosmarie wurde schmerzlich bewusst, dass Stella und Fabian das Wohnzimmer kaum betreten durften, abgesehen mal von Weihnachten oder wenn es Fototermine gegeben hatte, bei denen die komplette Familie abgelichtet wurde, weil sich so etwas immer gut machte. Für sie und Heinz waren die Kinder mehr oder weniger Statussymbole gewesen. Rosmarie konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit ihnen gespielt zu haben. Sie hatte Stella und Fabian den Kinderfrauen überlassen.
Stella kam zurück, mit Kaffee und Kuchen, und das Tablett, das sie vor sich hertrug, wäre ihr beinahe heruntergefallen, als sie ihre Mutter sagen hörte: »Stella, es tut mir ja so leid. Ich … war euch …, bin euch … keine gute Mutter.«
Hatte ihre Mutter etwas genommen?
Sie hatte sich wirklich verändert.
Was war geschehen?
Stella sagte nichts, sondern stellte ihr Tablett ab, dann deckte sie für sich und ihre Mutter den Tisch.
Was sollte sie auch sagen?
Diese ungewohnte Form der Selbsterkenntnis war für Stella fremd. So, wie sie und Fabian aufgewachsen waren, war für sie normal gewesen, weil sie es ja nicht anders kannte. Erst durch die Auerbachs hatte sie mitbekommen, dass Eltern und Kinder eine unzerstörbare Einheit bildeten, die sich liebte, die füreinander da war.
Stella erinnerte sich noch sehr gut daran, wie es gewesen war, als Fabian und die Ricky Auerbach sich schon an dem Tag ineinander verliebt hatten, als sie in den Sonnenwinkel gezogen waren. Wie glühend sie ihren Bruder beneidet hatte. Stella dankte dem Himmel jeden Tag, dass sie mit Jörg Auerbach dieses Glück auch erleben durfte, auch wenn das nicht auf den ersten Blick gewesen war. Jörg hatte während seiner Studienzeit die schrägsten Freundinnen mit nach Hause gebracht, und ihr war beinahe das Herz gebrochen. Als sie mit überhaupt nichts mehr gerechnet hatte, war sein Blick auf sie gefallen, und da hatte sie begonnen, die schönste Zeit ihres Lebens, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Sie und Jörg passten zusammen wie Topf und Deckel. Sie liebten sich wie am Anfang, nein, ihre Liebe war inniger geworden, und ihre Kinder waren die Krone obendrauf.
Stella bat ihre Mutter zu Tisch, und dann probierte Rosmarie erst einmal den Kuchen, und es war kaum zu glauben, sie lobte ihn!
Wie viele dieser Kuchen hatte Stella schon in die Villa ihrer Eltern gebracht, und da war eigentlich immer daran herumgemäkelt worden, oder ihre Mutter hatte überhaupt nichts gesagt, was eine noch größere Art der Missachtung war.
Stella sah ihre Mutter an, die ohne die ganze Schminke sehr viel besser aussah.
Sie war doch jetzt nicht nur gekommen, um ihr zu sagen, dass sie eine schlechte Mutter war, oder?
»Mama, weswegen bist du wirklich gekommen«, erkundigte Stella sich schließlich, weil sie es nicht länger aushielt.
Sie sah ihre Mutter gespannt an, doch Rosmarie ließ sich mit einer Antwort Zeit. Es war nicht einfach, den richtigen Anfang zu finden. Sie überlegte, doch als Rosmarie bewusst wurde, dass sie hier keinen Vortrag halten musste, bei dem es auf geschliffene Worte ankam, sondern dass sie mehr oder weniger eine Beichte vor ihrer Tochter ablegen wollte, hatte sie keine Probleme mehr. Sie erzählte von ihrem ersten Besuch bei Frau Doktor Steinfeld, bei der sie