Das Buch der Schurken. Martin Thomas Pesl

Das Buch der Schurken - Martin Thomas Pesl


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Tom Sawyer

      (aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl)

      ORIGINALFASSUNG: 1876

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      »Das Halbblut murmelte: »Jetzt sind wir quitt, verfluchter Hund.« Er raubte die Leiche aus, und danach steckte er das Mordmesser in Potters offene rechte Hand und setzte sich auf den leeren Sarg.

      Schwierig. Diesen Übeltäter kann man kaum mögen. Er soll fünf Leute auf dem Gewissen haben, und den Mord an Doktor Robinson, den Tom Sawyer und seine Freunde aus einem Versteck beobachten, schiebt er ganz ungeniert dem bewusstlosen Muff Potter in die Schuhe, der sich dann auch noch einbildet, es wirklich gewesen zu sein. Er geht, ohne mit der Wimper zu zucken, auf wehrlose Witwen los. Er begeht Raubzüge ohne schlechtes Gewissen.

      Und doch ist da dieser Beigeschmack von Rassismus. Nicht auf Injun Joes Seite (dieser eher unfreundliche Beiname haftet ihm im Original an), sondern auf jener des Autors, der ihn schuf. Mark Twain, der als großer, humanistischer Geist gilt – hier verpackt er in einen gefürchteten, unbarmherzigen Gauner, den das ganze Dorf am Mississippi River fürchtet und hängen sehen will, seinen jugendlichen Hass auf die Indianer, die amerikanischen Ureinwohner. Dieses »Halbblut« ist klischeebeladen und karikiert, dem Leserhass ohne Umschweife zum Fraß vorgeworfen. Joe ist ein Krimineller, klar, aber »Indianer Joe« ist ein krimineller Indianer. Und das in einem der populärsten Jugendromane der Geschichte.

      Als 2011 eine Debatte über die Verwendung des »N-Worts« für Schwarze in Tom Sawyers Nachfolgegeschichte Huckleberry Finns Abenteuer in den Feuilletons entbrannte, wurde argumentiert, mit dem Ausdruck sei in Mark Twains Sichtweise keinerlei abwertende Konnotation verbunden gewesen. Dass er mit dem Gauner Joe, der am Ende elendig in einer Höhle zugrunde geht, deutlich weniger behutsam umging, wurde dabei eher außer Acht gelassen. Der amerikanische Autor und Wissenschaftler Carter Revard verfasste dazu einen eigenen Artikel mit dem Titel Warum Mark Twain Indianer Joe getötet hat – und nie dafür angeklagt werden wird. Darin argumentiert er, es sei weithin bekannt, was den Schwarzen angetan worden sei, für die Ureinwohner gelte das aber nicht, also käme bei der Leserschaft und beim Autor zu Unrecht kein Mitleid mit Joe auf.

      Immerhin darf er seine Rache an Doktor Robinson argumentieren, bevor er ihn ersticht: »Vor fünf Jahren hast du mich abends aus der Küche deines Vaters vertrieben, als ich kam und was zu essen wollte, und du hast gesagt, ich hätte da nix zu suchen. Und als ich geschworen hab, dass ich’s dir heimzahle, auch wenn’s hundert Jahre dauert, hat mich dein Vater wegen Landstreicherei ins Gefängnis stecken lassen. Hast du geglaubt, dass ich das vergesse?« Aber dann die Draufgabe: »Nicht umsonst fließt Indianerblut in mir.«

      Mit Bauchweh also verzichten wir auf Mitleid und jubeln, als Tom den Täter überführt, jubeln auch, als er den Flüchtigen später sichtet. Jubeln, als das ganze Dorf zum Begräbnis zusammenkommt und befindet, das sei fast so schön, wie die Hinrichtung gewesen wäre. Jubeln und schlucken etwas. ■

      HERKUNFT: USA

      KORREKTE BEZEICHNUNG: Angehöriger der Indigenen in Amerika

      BERUF: Gauner

      TODESOPFER: NACHTRAGEND: DREIST: BELIEBT: NEMESIS: Tom Sawyer

      JOHN SILVER

      AUTOR: Robert Louis Stevenson

       TITEL: Die Schatzinsel

      (aus dem Englischen von Heinrich Conrad)

      ORIGINALFASSUNG: 1881

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      »Mit einem wilden Schrei griff John nach einem Baumast, riß die Krücke aus seiner Achselhöhle heraus und wirbelte das Wurfgeschoß durch die Luft. Es traf den armen Tom mit der Spitze mitten auf den Rücken zwischen die Schulterblätter. Seine Hände flogen in die Luft, er stöhnte kurz auf und fiel auf sein Gesicht.

      Was für ein perfekter Bösewicht, was für ein archetypischer Pirat! Der Lange John Silver, oder Long John, wie er auch in der Übersetzung genannt wird, hat alle Schrullen, die man sich für einen sinistren Seemann so vorstellt, und wahrscheinlich ist er überhaupt der Grund dafür, dass man sich die Seeleute so vorstellt.

      Da wären einmal die schiere Muskelkraft, die Holzkrücke und das fehlende Bein, der angeblich 200 Jahre alte Papagei auf der Schulter, der immer wieder »Piaster! Piaster!« krächzt, der im englischen Original ziemlich ausgeprägte Slang und das oft umständliche Philosophieren – hier haben wir einen Schurken, der seine Bösartigkeit keineswegs eingesteht, sondern immer politisch herumlaviert, um sein Handeln im Lichte der Gerechtigkeit darzustellen. Dass man ihn zum Kapitän gewählt habe, nachdem Smollett »desertiert« sei, klingt auch besser als das hässliche Wort »Meuterei«, und »Glücksgentlemen« ist ein milder Euphemismus für »Pirat«.

      Dank seiner rhetorischen Fähigkeiten gelingt es John auch immer wieder, trotz seines furchterregenden Rufes – den sogar der legendäre Captain Flint fürchtete –, auf Schiffen anzuheuern, in diesem Fall als Koch des Expeditionsschiffs Hispaniola zur titelgebenden Schatzinsel, die er längst kennt, weil er dabei war, als der Schatz dort vergraben wurde. Ein Teil der Männer schließt sich ihm bereitwillig an, weil er ihnen ein gutes Gefühl gibt: John Silver, der Populist.

      Seine dunkle Seite kommt auch nur sehr zweckgebunden zum Vorschein. Zwischendurch aber führt der gnadenlose Räuber und Mörder ein geradezu bürgerliches Leben und mit seiner Frau eine Gastwirtschaft. Als Ich-Erzähler Jim ihn zum ersten Mal sieht, meint er: »(…) und ich glaubte zu wissen, wie ein Pirat aussähe – jedenfalls nach meiner Meinung ganz anders als dieser reinliche freundliche Schankwirt.« Dass Silver intelligenter ist als der gewöhnliche Matrose, zeigt sich auch daran, dass er mehr verträgt: Er trinkt gut und gerne, aber nie so maßlos, dass ihm der Rum den Verstand raubt.

      Robert Louis Stevenson wollte eine reine Männergeschichte schreiben, mit einem genialischen Fiesling im Zentrum. Die Figur des Long John gelang ihm, indem er einen guten Freund (den Dichter William Ernest Henley) zum Vorbild nahm und all dessen positive Eigenschaften abzog. Das kam so gut an, dass Long John Silver seither ein Eigenleben entwickelt hat. In über 20 Verfilmungen (nicht immer eindeutig als Antagonist) und Popsongs wurde er porträtiert, und sogar eigene literarische Fortsetzungen und Spinoffs schrieb man ihm. In den USA ist sogar eine Fast-Food-Kette nach ihm benannt. ■

      BEINAME:


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