Das Buch der Schurken. Martin Thomas Pesl
verheiratet
STÄRKE: Trinkfestigkeit, Rhetorik
SCHWÄCHE: Gier
ANZAHL DER BEINE:
SANTER
AUTOR: Karl May
TITEL: Winnetou I–III
ORIGINALFASSUNG: 1893
» Goddam!«, schrie er erschrocken auf. »Das sind ja diese …«
Der Mörder hielt inne. Der Ausdruck des Schreckens wich aus seinem Gesicht und machte dem der Schadenfreude Platz. Er hatte unsere Lage erkannt, griff zu seinem Gewehr und richtete es auf uns. »Eure letzte Wasserfahrt, ihr Hunde!«, schrie er dabei.
Woher der Name kommt, ist unklar. Ein saint, ein Heiliger, ist dieser Mann jedenfalls nicht. Gegen Ende von Winnetou I hat er Vater und Schwester des Titelhelden ermordet und dadurch vor allem die große, frisch aufknospende Liebe des zartfühlenden Alleskönners Old Shatterhand im Keime erstickt; als Einziger aus einer vierköpfigen Räuberbande vermochte er zu fliehen. Da versucht Old Shatterhand, einem von Santers angeschossenen Kumpanen Informationen über den neuen Antagonisten zu entlocken. Woher er komme? »Weiß – es – nicht.« Was er eigentlich sei? »Weiß auch nicht.« Wohin er wolle? »Hin, wo Gold – Beute.«
So einfach ist das, sich einen Erzfeind zu zimmern, der eine gerade begonnene Geschichte knapp vor ihrem friedlichen Abebben zur Trilogie ausbaufähig macht. Wir wissen nichts über ihn, außer dass er goldgierig ist. Aber er hat zwei herzensgute Menschen umgebracht, und da wir ebenfalls herzensgut, aber auch rachsüchtig sind, müssen wir den Mann jetzt weitere zwei Bücher hindurch jagen. Zugegeben, es geht dann in Winnetou II und III hauptsächlich um ganz andere Dinge, und Santer guckt immer wieder mit einem vom Goldrausch leicht erschöpften Wildwestverbrecherblick um die Ecke. Dann aber stiehlt er (typischerweise auch in den deutschlandweit großzügig gesäten Winnetou-Festspielen) allen anderen die Show und holt sich den Bösenbonus des Publikumslieblings ab (siehe auch Mario Adorf in den Filmen).
Als »einfacher, armer Cowboy« stellt sich Santer bei seinem ersten Auftritt vor, gleich einmal Antipathie bei Old Shatterhand erweckend. Das Gefühl wird wie immer bestätigt, als Santer Nscho-tschi und Intschu-tschuna erschießt, weil er denkt, die Apachen hätten goldene Nuggets bei sich. Santer entkommt der ewigen Rache der Blutsbrüder und findet bei den Kiowa-Indianern Unterschlupf.
In Winnetou II erdreistet er sich, seine Nemesisse (sagt man das so?) gefangen zu nehmen, und nur durch eine Verkettung sehr eigenartiger Umstände kommt dabei niemand ums Leben und sogar jeder einzelne frei. Am Nugget-tsil schließlich, dem Eldorado der Gierigen, findet Santer in Teil III von Winnetou dessen Testament und sein eigenes ironisches Ende: Beim Stehlen des Goldes detoniert ein von Winnetou noch zu dessen Lebzeiten platzierter Sprengsatz.
Aber es geht natürlich noch weiter. Denn obwohl die Hauptfigur tot ist, gibt es noch einen IV. Teil, in dem die finstere Seite Santers plötzlich auf krasse Weise in die Tiefe geht. Da wird nämlich die Familie des Gauners beschrieben, deren Großteil depressiv veranlagt ist, sodass kaum ein Enkelkind das Alter von 16 Jahren erreicht hat. Puh! Starker Tobak. Die hoffnungsvolle Nachricht: Hariman F. und Sebulon L. Enters, Santers Söhne, sind am Leben und auf der netten Seite, denn sie wollen die Taten ihres Vaters wiedergutmachen. ■
WIRKLICHER NAME: »Hat – viele – viele Namen.« (vermutlich Enters)
HERKUNFT: »Weiß – es – nicht.«
BERUF: Bandit, Pedlar
ZIEL: »Hin, wo Gold – Beute.«
PSYCHOPATHENFAKTOR:
LAFCADIO WLUIKI
AUTOR: André Gide
TITEL: Die Verliese des Vatikans
(aus dem Französischen von Thomas Dobberkau)
ORIGINALFASSUNG: 1914
»(…) Bedenken Sie doch: ein Verbrechen, das weder aus Leidenschaft noch aus Habgier geschieht. Sein Grund, das Verbrechen zu begehen, ist ja gerade, daß er es ohne Grund begeht. (…)
Mit diesem Namen muss man ja auf die schiefe Bahn geraten: Lafcadio Wluiki! Und jetzt stelle man ihn sich auch noch mit französischem Akzent ausgesprochen vor! Wäre man dieser Wluiki und fände dann auch noch heraus, dass man eigentlich der Sohn des Comte Juste-Agénor de Baraglioul ist und einem dieser viel, viel elegantere Name zusteht, man müsste geradewegs verbittert und bösartig werden.
Allein, so verhält sich das bei Lafcadio Wluiki nicht. Der steht über allem. Sobald er auch nur ahnt, dass der Graf sein Vater sein könnte, lässt er sich eben Visitenkarten mit dem neuen Namen drucken und wird mit diesen beim vermeintlichen Erblasser vorstellig (und erbt auch prompt).
Die Schönheit des Jünglings sticht Mann wie Frau ins Auge. Gilt es, ein paar Kinder aus einem Feuer zu retten, ist er zur Stelle, und uninspirierte Schriftsteller finden in ihm eine neue Muse. Cadio, wie ihn sein Lieblings»onkel« an der Seite seiner Mutter einst nannte, ist hauptberuflich Projektionsfläche. Und alle lieben ihn – sogar, ja gerade im Angesicht des Verbrechens.
Denn ein Verbrecher ist Lafcadio ja schon. Kein gewöhnlicher wie sein ehemaliger Kumpel Protos, der in bizarre Verkleidungen schlüpft, um wohlhabenden religiösen Fanatikern ein Budget für die angebliche Rettung des Papstes aus den Händen der Freimaurer zu entlocken. Lafcadio hat das nicht nötig. Lafcadio macht ganz andere Dinge: Er stößt den Schwager seines Halbbruders, den er nicht kennt, aus dem Zug, wodurch er ihn tötet. Ohne Grund, einfach um sich zu beweisen, dass er ein freier Mann ist. Die sechs Tausender, die dieser Fleurissoire bei sich hatte, lässt er in dessen Jackentasche zurück; darum ging es ja nun wirklich nicht. Daher hat Lafcadio auch kein schlechtes Gewissen, nicht einmal als er erfährt, an wem er da sein Exempel eines acte gratuit, eines Verbrechens ohne Motiv, statuiert hat.
»Es fällt mir ja so schwer, nicht zauberhaft zu sein! Ich kann mir aber doch nicht das Gesicht mit dunkler Beize einschmieren, wie Carola mir riet; oder anfangen, Knoblauch zu essen …«, denkt er dabei. Die eigene Wohlgestalt zu reflektieren und sich intellektuell davon abzusetzen, da gehört etwas dazu.
Deshalb verliebt sich auch der Leser in Lafcadio, dankbar für solche Brillanz inmitten eines Haufens Narren. Eine Sotie, ein Narrenspiel, nennt Verfasser Gide sein Werk. Als Bösewicht und gleichzeitige Identifikationsfigur schafft er die perfekte Mischung aus Dostojewskijs Raskolnikow und dem ewig jungen Dorian Gray. »Love Cadio« – es ist ein Imperativ, dem sich niemand widersetzen kann. ■
ALTER: 19
FAMILIE: de Baraglioul
BERUF: Sekretär
SCHATTENBERUF: