Das Buch der Schurken. Martin Thomas Pesl
deinen eloquenten Bekenntnissen. Reden kannst du ja. Innerhalb kürzester Zeit hast du erkannt, was wir hören wollen, und das erzählst du uns dann in den schönsten Farben. Wir müssen wohl dankbar sein, dass es dir in Wirklichkeit nur um dein privates Wohl geht und du nicht einer von diesen populistischen Politikern bist. Wir würden dir sofort verfallen, dich wählen, und dann hätten wir den Salat.
»Sicherlich stehe ich auf diesem Gebiet, wie auf jedem anderen, weit hinter Ihnen, Herr Generaldirektor, zurück.«
Schmeichler! Das beherrschst du gut. So hast du dich zu einem Job hochgearbeitet, der dir Kontakt mit reichen Menschen verschafft hat, die die Wahrheit gar nicht wissen wollen, sondern lieber mit Illusionen konfrontiert sind. Diebstahl? Betrug? Nein, für dich sind das einfach notwendige Konsequenzen der Tatsache, dass du ein Sonntagskind bist, ein felix, der fürs Glück geschaffen ist. Deine Gaunereien sind Schauspielkunst, ebenso wie der epileptische Anfall, den du vortäuschst, um dem Militärdienst zu entgehen. Mal ehrlich, wie viele von uns hätten es nicht genau so gemacht, wenn wir das Talent dazu hätten? Selbstbewusstsein muss man haben und optimistisch durchs Leben gehen. Und Prinzipien vertreten. Vom reichen Lord adoptieren lassen willst du dich nicht, du bewahrst dir lieber deine Freiheit und rufst:
»Catch me, if you can!«
Ach so, nein, das war ein anderer Hochstapler. Aber der ging gewiss bei dir in die Schule, Felix Krull. ■
NAMENSBEDEUTUNG: der Glückliche
HERKUNFT: Deutschland
BERUF: Liftboy
LIEBLINGSTIER: Chamäleon
CHARME:
DIE GRAUEN HERREN
AUTOR: Michael Ende
TITEL: Momo
ORIGINALFASSUNG: 1973
»Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben besser als sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach. Sie hatten Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorfältig vorbereitete Pläne.
Die erste englische Ausgabe von Michael Endes Momo war nach ihnen betitelt: The Grey Gentlemen. Die Gentleman-Masche ist aber bestenfalls Maskerade, ein gut eingeübter Vertretertrick. Diese Herren – es gibt ihrer unzählige, und alle sehen sie gleich grau aus – haben für Galanterie eigentlich keine Zeit.
Wenn sie aus ihrer unterirdischen Kommandozentrale emporsteigen und eine nicht näher benannte Großstadt infiltrieren, dann mit einem klaren Ziel, auf das sie direkt und effizient zusteuern: den Menschen ihre Zeit zu stehlen. Das gelingt ihnen mit Argumenten wie diesem: »Das Einzige, worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, dass man was wird, dass man was hat.« Dann rechnen sie ihnen vor, wie viel Zeit sie sparen könnten, wenn sie nutzlose Tätigkeiten wie Spazierengehen und Freundetreffen aufgäben. Es fröstelt die Menschen, wenn ein grauer Herr im Raum ist, aber sie merken es kaum.
Vorboten von Workaholismus, Burnout und Smartphone-Terror, verkörpern sie im Jahr 1973 das Nummereins-Thema der heutigen urbanen, westlichen Zivilisation. Manch einer, der heute Stress und die Freudlosigkeit unseres grausam (!) inhaltsleeren, karrieregesteuerten Lebens beklagt, stellt sich immer noch diesen slicken Sparkassenvertreter im grauen Anzug und grauen Auto vor, der gesichtslos an seiner grauen Zigarre zieht und uns mit deren Dampf das Hirn vernebelt. Passivrauch und Zeitverschwendung – ein Albtraum!
Während heute vielleicht Digital Detoxing und Yoga die Lösung sind, ist es bei Michael Ende ein kleines Waisenkind namens Momo, das den Rauch verbläst. Momo, die eben keinen Wert darauf legt, es zu etwas zu bringen und etwas zu haben, bringt den perfiden Plan des Grauens ins Wanken. Sie macht Meister Hora und seine Stunden-Blumen ausfindig, die die Lebenszeit der Menschen verkörpern, und sie rettet die Welt vor den vielleicht fürchterlichsten, weil realitätsnahesten Gestalten, die ein modernes Kinderbuch je hervorgebracht hat. Denn sie findet heraus: So beängstigend die grauen Herren mit ihrer Effizienzrhetorik auch daherkommen, sind sie in Wahrheit doch einfach Süchtler! Sie brauchen die Blätter der Stunden-Blumen, um sich ihre Zigarren zu drehen.
Keine Panik also. Bei den heutigen Nichtrauchergesetzen hätten die grauen Herren vielerorts ohnehin keine Chance mehr. Der Zeitdiebstahl erstrahlt mittlerweile in vielerlei Farben. ■
NAMEN: unbekannt
HERKUNFT: unbekannt
BERUF: Zeitsparkassenbeamte
WAFFE: Effizienz
AUTOS: grau
HÜTE: grau
KOFFER: grau
LASTER: Zigarren (grau)
ELIXIER: Stunden-Blumen
ERZFEINDE: Momo, Meister Hora
IRIMIÁS
AUTOR: László Krasznahorkai
TITEL: Satanstango
(aus dem Ungarischen von Hans Skirecki)
ORIGINALFASSUNG: 1985
»Wir werden alle in die Luft sprengen«, beginnt Irimiás mit gedämpfter Stimme, dann wiederholt er mit lautem Baß: »Wir werden alle in die Luft sprengen! Jeden einzelnen für sich«, sagt er zu Petrina, »das ganze feige Gewürm. …«
Aber das ist doch nur ein Scherz, nichts weiter, um die Leute ein bisschen zu schockieren. Nein, nein, die Dorfgemeinschaft, aus der Irimiás mit seinem Kumpel Petrina vor eineinhalb Jahren fortging, totgeglaubt, die weiß es besser: »Irimiás ist ein großer Magier. Der baut noch aus Kuhscheiße ein Schloß, wenn er will«, sagt Futaki zu Schmidt. Seine Frau kennt ihn, den sie insgeheim ihren Messias nennen, noch besser: »Sie hat nur einen Mann gekannt – Irimiás –, der sie sowohl im Bett als auch im Leben hochbringen konnte. Irimiás, dessen kleinen Finger sie nicht für alle Schätze der Welt hingäbe, von dem ein Wort mehr bedeutet als das Gerede sämtlicher Männer zusammen … Ach ja, die Männer! Wo ist hier ein Mann – außer ihm?«
Nichts als ein arbeitsloser Herumtreiber ist er, und zusammen mit Petrina hat ihm im spätkommunistischen Ungarn die Geheimpolizei den Auftrag erteilt, Spitzel herbeizuschaffen. Also tanzt er den ihn völlig zu Unrecht idealisierenden Dörflern, die ihre Zeit mit Nichtstun und Saufen in der Kneipe verbringen, einen Satanstango vor – dies der Titel des Debütromans von László Krasznahorkai und der sehr werktreuen, 450-minütigen Kultverfilmung von Béla Tarr aus dem Jahr 1994.
»… Wie bitte? Die Schwierigkeit? Nun ja, wie gesagt, warum Ihnen das verheimlichen, das hätte keinen Sinn, nur … Nur das Geld, meine Damen und Herren. Denn ohne Pulver, nicht wahr, kann ich nicht schießen. Denn der Pachtzins, die Vertragskosten, die Rekonstruktion, die Investitionen. Die Produktion, das wissen Sie, hat einen