Waldlichter. A. V. Frank
Hier kannte sich jeder, und wenn einer der Nachbarn in finanziellen Schwierigkeiten steckte, dann half das gesamte Dorf. Oder Kleinstadt, wie es auf dem Papier hieß. Aber im Grunde war es wirklich nur ein heimeliges, kleines Dorf. Tran, wie sie von ihrem Cousin genannt wurde, liebte es hier. Sie wollte niemals woanders hin.
Zu ihrem 19. Geburtstag würde sie einen eigenen Wohnwagen bekommen, was sie verständlicherweise freute. Er sah sehr süß aus und wartete schon darauf, von ihr bezogen zu werden. Es gab einen kleinen Parkplatz, auf dem sie lebten, gemeinsam mit ein paar anderen, die es vorzogen, in einem mobilen Heim zu residieren.
Im Dorf war das Leben, das sich größtenteils im Pub abspielte, sehr friedlich. Dort war der Mittelpunkt des sozialen Lebens. Neue gab es zum Glück nur wenige. Die hatten immer so hohe Ansprüche. Natürlich gab es die Ferienwohnungen von Lilly Mairéan, deretwegen es ziemlichen Streit in Grettersane gegeben hatte, laut Robin zumindest. Lilly wollte unbedingt junge Leute in den Ferien herholen, damit diese ein bisschen Natur kennenlernten. Dem Rest der Einwohner passte das nicht, denn sie schätzten ihre Abgeschiedenheit. Tran wusste nicht wie, aber irgendwie war es Lilly gelungen, sich trotzdem durchzusetzen.
Jetzt verdiente das Dorf eine Menge an den Hütten. Und viele der Jugendlichen kamen wieder. Eine Familie war sogar nach einem solchen Urlaub hierher gezogen. Es waren Michael und Gloria Agnew. Ihre Tochter, die inzwischen zwanzigjährige Katherina, war eine gute Freundin von ihr geworden.
Tran freute sich auf die Ankunft der Gäste, denn es waren auch einige Freunde von ihr dabei, die seit drei Jahren immer kamen. Die Schwestern Marina und Caroline Knight aus London, beide inzwischen 19 Jahre, sowie die Brüder Eric und Philipp, 19 und 18 Jahre und beide supersüß, die in Glasgow wohnten. Und nicht zu vergessen das Paar Lisa (22) und Melissa (21), die sich immer freuten, aus Belfast herauszukommen. Das waren ihre Freunde, denn sie war eine der letzten Jugendlichen in Grettersane. Die anderen hatte es alle in die Großstädte gezogen.
Mit einem dumpfen Schlag knallte Transca gegen den Wohnwagen. Sie hatte schon wieder nicht geschaut, wo sie hinlief. Jetzt würde sie gleich zwei Beulen am Kopf bekommen, der bereits zu schmerzen begann. Sie verfluchte sich für ihre Unachtsamkeit. Nachdem sie um den Wagen herumgegangen war, machte sie die Tür auf und stieß prompt mit Robin zusammen.
„Verdammt, am besten packt man mich in Kissen ein und verhindert, dass ich mich bewege!“, schimpfte sie.
Erschrocken sprang Robin zurück. „Was ist denn los, Tran, dass du dich so aufregst?“, fragte er, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen.
Sie schnaubte, drückte sich an ihm vorbei und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann drehte sie sich zu ihm um, sah ihn an und sagte: „Erst stoße ich mir den Kopf an einem Ast, dann renne ich volle Kanne gegen unseren Wohnwagen und schließlich knalle ich mit dir zusammen. Und der Ast war das weichste Hindernis von allen dreien.“
Sein Grinsen wurde noch breiter. „Tja, ich bin eben gut trainiert. Soll ich Kissen holen gehen?“
Sie bewarf ihn mit dem Handtuch, mit dem sie gerade ihre Hände getrocknet hatte, wandte sich um und ging in ihren Teil des Wagens, hörte allerdings noch sein schallendes Lachen.
Im Traum war sie wieder im Wald. Sie zwängte sich durch einen Spalt in einer Felswand, vor der sie plötzlich stand. Nun befand sie sich innerhalb eines perfekten Kreises, von dem acht Höhlen abgingen. In der Mitte stand ein riesiger Obelisk, doch sie konnte den Blick nicht darauf ruhen lassen, genauso wenig, wie sie ihre Umgebung genauer betrachten konnte.
Es zog sie in die braune Höhle, die keinerlei Verzierungen hatte außer einem Zeichen über dem Eingang. Es war ein senkrechter Strich, von dem oben ein Blatt abging und der unten in einer Schale stand. Sie betrat die Höhle und fühlte sich sofort geborgen. Dort ruhte auf einem kleinen Podest eine Schale aus Katzenauge, in die von oben bräunliches Wasser tropfte. Um das Podest herum standen kunstvoll verflochtene Gräser, dazwischen Tongefäße, in denen Kräuter und Früchte gelagert wurden.
Doch so interessant das auch war, Tran gelang es erneut nicht, ihren Blick darauf ruhen zu lassen und ihn somit von der Schale abzuwenden. Sie berührte das Gefäß sanft, wollte wissen, wie sich der Stein anfühlte, der so überirdisch aussah. Das Wasser begann auf ihre Berührung hin, braun zu glühen. Erschrocken wich sie zurück.
Eine Stimme ertönte, so ausgewogen, so hoffnungsvoll, dass ihr Tränen in die Augen traten. „Meine Tochter, du bist nach Hause zurückgekehrt. Das freut mich unendlich, denn ich bin nur so stark, wie es meine Kinder sind, und du wirst unglaublich stark werden. Ich bin Billingra, komme zu mir, sobald du kannst.“
Transca konnte nur stumm dastehen und nicken, bis das Glühen erlosch. Danach stolperte sie langsam aus der Höhle. Ihre Beine schienen ein Eigenleben zu entwickeln, denn plötzlich stand sie genau vor dem Obelisken und blinzelte im reflektierten Sonnenlicht. Sie wandte sich ab und sah sich der schwarzen Höhle gegenüber.
Verschwommen nahm sie eine Gestalt wahr, die aus dieser Höhle trat, eine junge Frau mit langem schwarzem Haar und hellgrauen Augen, die sie erschrocken und entgeistert anstarrte. Sie trug ein hellgrünes, langes, fließendes Kleid und Transca wusste intuitiv, dass es aus leichtem Leinen war. Es war die Person, die sie heute Nachmittag gespürt hatte, mit der sie sich verwechselt hatte. Verständlicherweise, denn auch Tran hatte lange schwarze Haare und graublaue Augen. Sie hatten sogar beinahe die gleiche Größe.
Tran runzelte die Stirn und wollte näher herangehen. Doch dann verschwamm ihre Umgebung immer mehr.
Ruckartig setzte sie sich auf, erschrocken über diesen Traum. Auch wenn ihre Fantasie ihr schon des Öfteren einen Streich gespielt hatte, dann doch nie den gleichen so kurz hintereinander. Oder einen so seltsamen.
Sie versuchte sich an den Namen zu erinnern, den die Stimme in der Höhle genannt hatte, es wollte ihr aber nicht gelingen. Überhaupt konnte sie sich an kaum etwas erinnern außer an die Person und den Befehl der Stimme, zu ihr zu kommen.
Sie schaute auf die Uhr und sah, dass es schon acht Uhr morgens war. Sie stand auf, streckte sich, zog die Kleider vom Vortag an und holte sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank. Sie achtete nicht darauf, was es war, sie achtete auch nicht auf den Geschmack, sie aß einfach mechanisch, um genug Nährstoffe für den Tag zu haben. Sie schrieb Robin, der sicher schon bei der Arbeit war, einen Zettel, dass sie in den Wald ginge und vielleicht erst morgen zurückkommen würde.
Draußen empfing sie ein strahlend blauer Himmel, aber es war noch etwas nebelig. Kalt war ihr jedoch nicht, schließlich war es Sommer.
Sie schlenderte an den Wohnwagen vorbei über eine große Wiese und überquerte die zugewucherte Waldgrenze. Als sie diese hinter sich gelassen hatte, atmete sie tief durch und erfreute sich an den Bäumen und dem grünen Laub.
Dann dachte sie wieder über ihren Traum nach. Da war eine Felswand gewesen mit einer Spalte, durch die man in den Kreis gelangte. Also sollte sie wohl in Richtung der Berge gehen.
Entschlossen wanderte sie los, immer nach Nordwesten, obwohl das Gebirge eher östlich lag. Sie wollte einen kurzen Abstecher zum Strand machen und sich dann von der anderen Seite dem kleinen Gebirge nähern, da man von Süden her kaum nahe genug herankam. Dort lebten einige wilde Tiere und niemand kannte den Weg genau.
Verwirrt runzelte Transca die Stirn. Wieso ging eigentlich nie jemand von Süden in die Berge? Generell wusste sie nicht, ob überhaupt schon mal irgendjemand in dieser Gegend gewesen war. Dort irgendwo lag auch die Quelle des Rotflusses, der durch den ganzen Wehwald floss, ehe er ins Meer mündete. Der Wald grenzte auf einer langen Strecke genau an den Strand der Halbinsel. Transca schlug allerdings nicht den Weg zur Rotflussmündung ein, sondern zu einem kleinen Teil des Strandes, der von besonders hohen Kiefern umsäumt war. Es war einer ihrer Lieblingsplätze.
Ihre Gedanken schweiften zu dem Traum. Diese Frau, sie war seltsam gewesen. Natürlich war da die Erinnerung an den Weg nach Hause und die Ähnlichkeit zu ihr selbst, aber sie hatte, davon mal abgesehen, anders gewirkt. Sie schien ganz leicht zu glühen, in einem zarten Grün, aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet. Außerdem hatte es nach Lavendel gerochen. Das