Waldlichter. A. V. Frank
sich zu bauschen wie in einer Windböe, obwohl kein Luftzug zu spüren gewesen war. Sie hatte ein nahezu perfektes Gesicht gehabt, war aber nicht geschminkt gewesen ...
„Auf jeden Fall war sie kein Mensch“, dachte Tran, was sie zum Frösteln brachte. „Sie hätte mich auch eigentlich gar nicht sehen dürfen, schließlich war ich nur im Traum dort.“ Dann merke sie, was sie da dachte, und korrigierte sich schnell. „Ich war überhaupt nicht dort und diese Person gibt es auch nicht. Es war alles nur eine Ausgeburt meiner Fantasie! Jetzt beginne ich schon, an Sidhe und Kobolde und Gnome zu glauben, nicht möglich!“
Aber sie konnte sich selbst nicht so recht überzeugen, es blieb das ungute Gefühl, dass dieser Traum sehr wohl real gewesen und in irgendeiner Weise wichtig war. Leider.
Seufzend wandte sie ihre Gedanken einem anderen Thema zu. Blätter. Sie dachte über die einzelnen Formen von Blättern nach und fragte sich, was diese Unterschiede für einen Nutzen hatten. Bis sie beinahe wieder mit einem Baum zusammenstieß.
„Ist das denn die Möglichkeit?“, fragte sie sich wütend. Sie lehnte sich gegen den Stamm und überlegte, warum sie eigentlich nie sah, dass ihr etwas im Weg stand. Brauchte sie etwa eine Brille?
Ihre Augen weiteten sich angstvoll. „Bitte nicht“, dachte sie voller Inbrunst. Das wäre für sie der schlimmste Albtraum. Sich nicht mehr auf seine Augen verlassen zu können, musste grauenvoll sein. Sie bedauerte alle Leute, für die dieser Horror Normalität geworden war. Melissa hatte eine Brille, aber das schien sie nicht zu stören. Und Philipp trug Kontaktlinsen, auch er fand nichts daran. Vollkommen unverständlich. Aber sie zweifelte daran, dass sie eine Brille nötig hatte. Sie musste bloß aufmerksamer sein.
Schlagartig kam sie auf andere Gedanken, als sie bemerkte, was es für ein Baum war, an dem sie lehnte. Es handelte sich um eine Kiefer und diese Art Gehölz wuchs hier nur in Strandnähe. Und solch große Exemplare gar nur an ihrem Strand.
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die ganze Zeit gelaufen war, doch das war sie anscheinend. Durch den Wald gerannt, als ob irgendetwas hinter ihr her wäre, sonst wäre sie noch nicht hier angelangt. Doch als sie auf die Uhr sah, merkte sie, dass sie trotz allem schon eine ganze Stunde unterwegs war.
Die Zeit verging hier im Wald immer wie im Fluge. Als sie aufmerksam schnupperte, roch sie den salzigen Wind. Etwa hundert Schritte weiter hörte sie dann auch das Geschrei der Möwen und sah das aufgewühlte Meer. Sie trat unter den Bäumen hervor und betrachtete schweigend den großartigen Ausblick. Zu ihren Füßen lag ein wundervoller Steinstrand mit kleinen, runden Kieseln, dahinter erstreckte sich der Ozean. In einiger Entfernung konnte sie Festland entdecken, doch das störte sie nicht. Der Wind spielte mit ihren Haaren, streichelte ihr Gesicht. Sie lächelte glücklich, setzte sich hin und schloss die Augen. Genoss die Natur und den Frieden.
Sie wusste nicht, wie lange sie so sitzen blieb, aber als sie die Augen aufschlug und aufstand, war sie komplett entspannt und ruhig. Dann wandte sie dem Meer den Rücken zu und ging wieder in den Wald hinein.
Nun waren ihre Gedanken besonnen, ihr Blick klarer und ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Umgebung gerichtet. Zielstrebig wanderte sie weiter, dachte über nichts Bestimmtes nach und schaffte es, nicht gegen irgendwelche Bäume zu rennen.
Sie ging eine ganze Zeit lang nach Nordwesten, steuerte auf einen kleinen See zu. Überall im Wald lagen Seen, die darauf hindeuteten, dass der Rotfluss früher einmal ganz anders verlaufen sein musste. Es waren insgesamt zehn Stück bekannt, doch in den Gegenden, die nie jemand betrat, weshalb auch immer, konnte es durchaus noch mehr geben. Bald lichteten sich die Bäume und Transca stand am Ufer des Sees. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche und trieb Blätter wie kleine Boote über das Wasser. Am liebsten wäre sie noch eine Weile stehen geblieben, doch sie wollte unbedingt diese Felsspalte erreichen, also ging sie um den See herum und verschwand wieder im Wald.
Sie bemerkte, dass das Gelände anstieg und sie immer steiler nach oben führte. Keuchend blieb sie stehen und blickte sich um. Sie war nun schon ein gutes Stück von Grettersane weg und sah bis an den Horizont nur Bäume und rechts von sich in weiter Ferne das Meer. Sie konnte sogar einige Lichtungen im Wald und den See, an dem sie vorher noch gestanden hatte, ausmachen. Um sich herum hörte sie die Vögel singen und ein Knacken im Unterholz, das wohl von einem der vielen wilden Tiere verursacht worden war. Doch vor diesen hatte sie keine Angst, sie wusste, dass sie nicht als Beute angesehen wurde, sondern als etwas Fremdes, das es zu meiden galt. Die Luft war nun nicht mehr salzig, sondern erfüllt von den Gerüchen des Waldes, zusätzlich verstärkt durch die Wärme. Der Duft lullte sie ein und sie wollte nichts sehnlicher, als in ihm zu versinken.
Als sie sich umdrehte, stand direkt vor ihr ein Mensch. Erschrocken fuhr sie zurück und schrie leise auf, während er sie nur weiter stumm anstarrte. Sich nicht einen Millimeter rührte. Keinerlei Reaktion zeigte.
Transca holte ein paarmal beruhigend Luft, dann schaute auch sie ihr Gegenüber prüfend an. Der Mann sah gut aus mit seinen braunen, schulterlangen Haaren, den tiefgrünen Augen und dem durchtrainierten Körper. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Er hatte sich immer noch nicht bewegt.
„Wer bist du? Und wo kommst du auf einmal her?“, fragte sie ihn und versuchte gleichzeitig, ihm nicht in die Augen zu schauen, weil sie wusste, sie würde darin versinken. Wie unglaublich tief und unergründlich diese waren ... Abwehrend verschränkte sie die Arme vor der Brust und hoffte gleichzeitig, sich so an einer unbewussten Bewegung zu hindern. Sie wurde sich ihrer schmuddeligen Kleidung bewusst und wünschte, sie hätte etwas anderes angezogen.
Da endlich zeigte sich eine Regung auf dem Gesicht des Fremden. Er lächelte und Tran wäre am liebsten vor ihm dahingeschmolzen. Niemals hatte sie so ein tolles Lächeln gesehen. Sie riss sich zusammen und verbannte den Gedanken an seine Lippen – wundervolle, sinnliche Lippen ‒ schnell aus ihrem Kopf. Heute war sie nicht sie selbst.
„Mein Name ist Sirman. Da trete ich noch extra auf einen Ast, um dich zu warnen, damit du nicht erschrickst, und jage dir trotzdem einen Schrecken ein. Anscheinend nicht die erfolgversprechendste Methode“, sprach er und zuckte schuldbewusst mit den Schultern. Als sie keinen Ton von sich gab, weil sie Angst hatte, etwas Peinliches oder Dummes zu sagen, fragte er sie: „Wie heißt du?“
Sie riss sich zusammen und antwortete: „Transca. Na ja, ich werde meistens Tran genannt.“ Sie schwieg kurz und hoffte inbrünstig, nicht zu stottern. „Der Trick mit dem Ast war wirklich nicht sehr erfolgreich. Mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben.“
Er grinste schief, rieb sich jedoch mit einer Hand verlegen den Nacken ‒ während Tran leichte Atemnot bekam ‒ und fragte mit samtweicher Stimme: „Und schlägt dein Herz wieder, Tran?“
„Oh ja, es läuft gerade Marathon“, dachte sie, antwortete aber: „Ja, ich habe es überlebt.“ Dann lächelte sie ihn an. Täuschte sie sich oder weiteten sich seine Pupillen etwas, bevor er blinzelte?
„Du scheinst sehr erschöpft zu sein, wieso setzt du dich nicht eine Weile zu mir und isst etwas?“, schlug er vor und deutete auf eine Brombeerhecke zu ihrer Linken.
„Eigentlich wollte ich noch weiter ...“, setzte sie zweifelnd an, obwohl ihr nichts lieber wäre, als diesen Fremden näher kennenzulernen.
„Ich halte dich nicht lange auf, das verspreche ich dir. Aber wenn du nicht möchtest ...“ Sein Ton blieb unverändert, doch seine Körperhaltung war auf einmal angespannt und vorsichtig. Wovor fürchtete er sich?
„Nein, ich würde mich sehr freuen“, beeilte sie sich zu antworten und lächelte wieder.
Sirman lächelte zurück – es wirkte beinahe erleichtert ‒, drehte sich um und ging durch eine Lücke in der Brombeerhecke. Sie folgte ihm schmachtend. Dahinter öffnete sich eine kleine Lichtung, von Brombeerhecken und dichtem Unterholz umgeben. Sie ließen sich einander gegenüber nieder und aßen die Beeren, die er mitgebracht hatte. Sie redeten nicht miteinander, sondern sahen sich die ganze Zeit stumm an. In Transcas Kopf herrschte ein Chaos aus Stimmen, die einen forderten sie auf, etwas zu sagen, die anderen schrien sie an, bloß still zu sein. Also schwieg sie eisern und bewunderte diesen geheimnisvollen