Waldlichter. A. V. Frank
erwiderte sie: „Mit mir ist nicht sonderlich viel los, außer dass ich in den letzten Tagen andauernd irgendwo dagegengerannt bin und immer das Gefühl hab, in einer anderen Umgebung zu sein. Noch dazu habe ich im Wald einen Jungen getroffen und mich total in ihn verliebt, denn er hat mich zum Abschied geküsst und ist gleich darauf im Wald verschwunden. Es ist also nichts wirklich Besonderes außer einer gewissen Verwirrung.“
Er starrte sie an und schien ebenfalls irritiert zu sein. Was immer er erwartet hatte, diese Erklärung war es wohl nicht gewesen. „Ein Junge? Er hat dich geküsst? Warum? Wer? Wieso bist du in ihn verliebt? Kennst du ihn überhaupt?“ Er stammelte die Fragen unkontrolliert vor sich hin und sie wünschte sich, sie wäre nicht mit ihm mitgegangen. Dass er sich auch immer die pikantesten Themen heraussuchen musste.
„Sirman hat mich geküsst, nachdem wir gepicknickt hatten, und während dieser Zeit habe ich mich in ihn verliebt. Ich weiß, das hört sich verrückt an, deshalb bin ich ja so verwirrt.“
„Aufgrund eines Kusses? Wegen eines Kusses verliebst du dich?“
Nun schien er regelrecht wütend zu sein und sie fragte sich, was das werden sollte. Er war ein Kumpel und hatte gewollt, dass sie ihm ihr Herz ausschüttete, was sie gerade getan hatte. Wo lag das Problem und wieso stellte er so viele Fragen? Ein entsetzlicher Verdacht beschlich sie, doch sie schob den Gedanken ganz weit von sich. Das konnte nicht sein.
Doch was er dann tat, bestätigte den Gedanken und ließ ihr Hirn erstarren. So war sie zu nichts anderem fähig, als sich an ihn zu schmiegen, weil er auf sie zukam und sie leidenschaftlich küsste. Ihr Körper, der von ihrem Geist losgelöst zu sein schien, küsste ihn zurück und presste sich fest an ihn. Ihr Gehirn derweil taute langsam wie nach einer Schockfrostung auf und versuchte, mit dem Gedanken fertig zu werden, dass Eric in sie verliebt war. Dass er sie küsste!
Es war einfach unfassbar. Komplett falsch. Sie wollte nichts von ihm, wie ihr schlagartig bewusst wurde. Es fühlte sich schrecklich falsch an. Unvermittelt übernahm ihr Geist wieder die Kontrolle über ihren Körper, trat einen Schritt zurück und stieß ihn von sich.
„Wie konntest du? Natürlich liebe ich dich, aber doch eher wie einen Bruder als einen Freund, mit dem ich knutschen möchte. Ich dachte, das wäre dir inzwischen klar. Ich kann das nicht! Ich bin nicht Kath und du nicht Philipp! Wie konntest du mein Vertrauen nur derart missbrauchen?“, rief sie entsetzt. Dann drehte sie sich um und lief zurück zum Feuer.
Eric hingegen war ebenfalls schockgefroren. Seit Transca ihm das von diesem Sirman, oder wie dieser Wicht hieß, erzählt hatte, fühlte er Eifersucht und Wut. Wenn sie sich bloß aufgrund eines Kusses verliebt hatte, hätte er schon so oft mit ihr zusammen sein können. Wie Philipp und Kath. Als sie ihn von sich stieß, wusste er nicht mehr, wieso er das getan, sie geküsst hatte.
Ihre Worte trafen ihn tief, da er wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Wollte er jemals wie sein kleiner Bruder sein? Nein, ganz sicher nicht. Er erforschte seine Gefühle für sie näher und erkannte, dass es wirklich bloß Geschwisterliebe war, wie sie gesagt hatte, und die Eifersucht eher der Drang war, sie zu beschützen. Sie vor einem Jungen zu beschützen, der sie ihm wegnehmen konnte. Er hatte komplett überreagiert.
Wie konnte er sich dermaßen irren? Er konnte nicht verstehen, dass er so die Kontrolle verloren hatte. Sie war doch seine Tran, seine kleine Schwester, die er seiner echten kleinen Schwester vorzog.
Als er realisierte, dass sie ihm nun nie wieder trauen würde, ihn nie wieder an sich heranlassen würde, sank er in die Knie. Was hatte er da angerichtet? Ein schweres Gewicht drückte auf seine Schultern, eine riesige Schuld. Unwillkürlich brach er in Tränen aus. Es waren Tränen der Scham und sie brannten auf seinen Wangen. Nie hatte er das gewollt. Ihr Vertrauen war ihm doch das Wichtigste auf der Welt. Schon immer!
Irgendwann versiegten die Tränen und er richtete sich auf. Er schämte sich auch für sein Weinen, aber er hatte es nicht zurückhalten können. Langsam ging er zum Feuer zurück und hörte schon bald das fröhliche Lachen der Clique. Als er in den Lichtkreis trat, sah er Tran. Sie saß auf der Decke und lachte mit den anderen, als sei nichts geschehen. Dieser Anblick gab ihm Kraft und er trat dichter an das Feuer heran.
Tran bemerkte, wie er von hinten ankam, und machte ihm Platz auf der Decke. Wie selbstverständlich setzte er sich hin und legte ihr den Arm um die Schultern. Für die anderen sah es sicher aus wie immer, aber sie spürte, dass er ihre Schulter kaum berührte und total verkrampft war.
Da lehnte sich von der anderen Seite Lysana, die mit Victoria den Platz getauscht hatte, an Tran, schloss die Augen und schlief ein. Sie schien ziemlich erschöpft zu sein, wenn sie sogar hier einfach einschlafen konnte, aber auch Marina gähnte bereits ununterbrochen. Also stand Kath nach kurzer Zeit auf, trat den kläglichen Rest des Feuers aus und weckte Ana. Die Gesellschaft rekelte sich und packte ihre Sachen zusammen.
Tran war froh um das Ende des Abends. Sie konnte es nicht ertragen, so nahe bei Eric zu sitzen. So gingen sie alle zusammen zurück und verabschiedeten sich voneinander, bevor sie sich in ihre Betten verzogen.
*
Kapitel 4
Ein Sonnenstrahl kitzelte mich im Gesicht und ich schlug schläfrig meine Augen auf. Verwirrt blinzelte ich, denn einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich mich befand. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich das Erbe meiner Schwester endlich angetreten hatte. Ich war in Irland. Und das Projekt von Pan beinhaltete nur, die Umwelt hier zu untersuchen und eventuelle bisher unbekannte Verstöße oder Abnormalitäten aufzudecken, das hieß, ich hatte genügend Zeit, das zu tun, wovon ich schon immer geträumt hatte.
Meine Zimmergenossinnen schliefen noch seelenruhig, wie ich undeutlich wahrnahm, als ich mich in unserem Zimmer umschaute.
Ana bewegte sich unruhig im Schlaf. Ich konnte nicht verstehen, warum sie so über das Zimmer geschimpft hatte. Aber sie hatte schon im Bus nur gezetert und gemault. Kopfschüttelnd drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen. In dieser süßen, überschaubaren Kleinstadt war das Leben so ungewohnt ruhig und persönlich. Das war tröstlich für mich und ich genoss es in vollen Zügen. Auch gestern Abend am Lagerfeuer war es mir gewesen, als ob wir uns alle schon Ewigkeiten kannten, es war wie eine Heimkehr. Allerdings war ich sehr neugierig, was das Leben von Tran betraf, die anscheinend die letzte einheimische Jugendliche dieses Dorfes zu sein schien. Sie näher kennenzulernen schien interessant zu werden.
Meine Neugierde war kaum zu stillen – etwas, was mich innerhalb von Pan schnell nach oben gebracht hatte. Bei dem Gedanken an die Organisation, Elisabeth und John verfinsterte sich meine Laune und ich knirschte mit den Zähnen.
Da hörte ich Caro flüstern: „Ist schon jemand von euch wach?“
Ich richtete mich auf und raunte ihr zu: „Ja, weißt du, wie spät es ist?“
Ich hörte sie auf ihrem Bett herumkriechen. „Mist, es ist schon Viertel vor zehn und um halb elf wollten wir uns doch vor St. Patrick’s treffen!“
Ich konnte nur farbige Schemen ausmachen, weswegen ich nach meiner Brille tastete. Als ich sie endlich gefunden und aufgesetzt hatte, sah ich, dass Caro mich anstarrte. „St. Patrick’s? Ist das die Kirche? Was schaust du so?“, fragte ich schnell, während ich aufstand und mich streckte.
„Ja, ist es. Hast du mich vorhin überhaupt gesehen?“, antwortete sie.
Ich versuchte, freundlich zu bleiben, doch meine Stimme hatte einen bissigen Unterton. „Ich habe dich undeutlich erkannt, bin aber noch nicht blind, falls das deine nächste Frage sein sollte.“ Betreten schaute sie zur Seite.
Als ich mich an die Uhrzeit erinnerte ‒ mein Gehirn streikte wohl noch etwas ‒, nahm ich mich zusammen und rief laut: „Mädels, aufwachen, es ist helllichter Tag und wir sind in einer Dreiviertelstunde mit den anderen verabredet.“ Ich warf meine Kissen auf diejenigen, die das Pech hatten, in meiner Nähe zu liegen. Mit den Hausregeln nahm es hier offensichtlich keiner so ernst, denn es war gestern Abend sicherlich schon nach zwei Uhr gewesen, als wir hier ankamen, obwohl doch um zwölf Bettruhe