FUNKSTILLE. Richard Neubersch
Wir sind alle total enttäuscht von dir. Deine Mutter und ich haben lange darüber nachgedacht, dich in ein Erziehungsheim zu stecken. Vielleicht können die ja aus dir noch einen ordentlichen Jungen machen.«
»Nein Papa, bitte nicht ins Erziehungsheim!«
»Mal sehen, wir denken noch darüber nach. Aber eines kann ich dir jetzt schon sagen: Noch eine Sache und du bist im Heim!«
Kann man sich schäbiger fühlen als ich mich in diesem Moment? Ich fühlte mich wie der letzte Dreck. Ich glaubte, niemandem mehr unter die Augen treten zu können und war überzeugt, dass jeder wusste, was für ein Monster ich war. Ich konnte dem Leben keine Freude mehr abgewinnen. Als wir etwa vier Wochen später in Urlaub fuhren, hatten meine Eltern mir vorher noch deutlich erklärt, dass ich eigentlich nicht verdient hätte, mitgenommen zu werden.
Heute weiß ich, dass dies das KO für mein Ego war. Für viele Jahre fühlte ich mich nur erduldet und unwert, Freude zu empfinden. Als Zehnjähriger mochte ich das vielleicht nicht ganz so deutlich wahrgenommen haben, doch heute noch erkenne ich, dass aus diesem schwachen Ego heraus vieles in meinem Leben schiefgelaufen ist. Eine Menge Stoff für ein weiteres Buch.
Ein aufgeblähtes Ego ist mindestens genauso nachteilig wie ein kümmerliches. Im Extremfall führt es zu ständiger Selbstüberschätzung, Schuldverteilung auf andere Menschen und Grenzüberschreitungen durch fehlende Achtsamkeit.
Sie wollen ein Beispiel aus meinem Leben?
Na gut!
Mein Ego hat sich wohl am häufigsten bei meinen fünf Kindern aufgebläht. Immerhin wollte es ja glänzen und bewundert werden. Mit neu gefühltem Bedauern erinnere ich mich an die vielen Standpauken, die ich ihnen zugemutet hatte, ohne dass ich in meiner Selbstherrlichkeit ein Ende finden konnte. Dabei hatten sie sich kaum etwas zuschulden kommen lassen. Doch wenn ich einmal Wasser auf der Mühle hatte, fielen mir immer wieder neue Dinge ein, bis mich eines oder mehrere meiner Kinder mit Tränen in den Augen anflehte: »Bitte Papa, hör endlich auf!«
Die trickreichen Verkleidungen des Egos
Doch eigentlich sind all diese Erfahrungen nur Details, die sich wie kleine Wellen an der Oberfläche eines Gewässers zeigen, das je nach der Grundbeschaffenheit des jeweiligen Egos in eine Richtung strömt, die für den Seelenplan nicht zielführend ist.
In meinem Fall kam das Strömen jenes Ego-Gewässers zum Erliegen und zeigte nicht mal mehr kleine Wellen, als ich mit meiner Immobilienagentur und der Property Lounge in den finanziellen Ruin trieb.
Oh Mann, war ich auf einem Egotrip! Wie smart und erfolgreich fühlte ich mich als gefeierter und hochgeschätzter Immobilienberater, den Staatspräsidenten und CEOs multinationaler Firmen in seinem Büro zu einem Plausch bei Kaffee und/oder Champagner besuchten, nachdem sie mit dem Flieger oder Privatjet in der Algarve gelandet waren und noch bevor sie in ihre Villa fuhren, die ich ihnen verkauft hatte.
Die Krönung meines Egos war die Property Lounge, die seiner Zeit wohl zu den edelsten Clubs der ganzen Region zählte. Hier haben sich weltberühmte Fußballer so zugedröhnt, dass ich Mühe hatte, sie in ein Taxi zu stecken.
Wie konnte mir dies passieren, ohne dass es mir bewusst wurde? Ganz ehrlich? Erst in diesem Moment, in dem ich dies schreibe, offenbart sich mir mein großer Irrtum. So war es kein Wunder, dass mein höheres Selbst korrigierend eingegriffen hatte. Alles passierte zu meinem Besten.
Wie also konnte mir das passieren? Weil ich nicht erkennen wollte, wie geschickt mein Ego eine Geschichte daraus machte, die im Einvernehmen mit meiner Entscheidung war, nicht dem Geld, sondern dem Menschen zu dienen. Ich redete mir ein, dass es eine gute Sache sei, meine Kunden aufrichtig zu beraten. Dafür war ich bekannt. Ich diente ihnen, doch ich begriff nicht, dass diese Menschen andererseits ihrem eigenen Ego dienten, das immer mehr Bestätigung suchte. Größere Villen, größere Grundstücke, schönere Ausblicke, höhere Profite beim Wiederverkauf. Ich diente dem Mammon.
Heute kommt mir das damals Erlebte vor wie ein schlechter Traum und ich bin dankbar, dass mir vom Leben eine weitere Chance gegeben wurde, es diesmal hinzukriegen.
Ich komme wieder zurück zur eigentlichen Aussage des Kapitels, die ich jetzt vielleicht ein wenig anders formulieren würde:
Dem Ego ist nicht zu trauen, weil es in trickreichen Verkleidungen daherkommt und selbstsüchtige Interessen durchsetzen will, in welche Richtung es dabei auch immer gehen mag. Es hat dem Menschen zum Besten des Ganzen zu dienen, nicht, ihn zu manipulieren.
Möge mich niemand missverstehen: Das Ego ist etwas Feines, wenn es im Rahmen seiner ursprünglichen Qualitäten bleibt. In meinem Verständnis ist es die Allianz aus Verstand und Körper, wie es in den alten indischen Schriften steht. Wir brauchen unseren Verstand im Leben und auch unseren Körper. Bei jeder Kleinigkeit und bei all unseren Aktivitäten braucht es den Verstand zur Umsetzung, sei es beim Kochen, beim Gang zur Toilette oder in den Fitnessclub.
Den Verstand brauchen Sie jetzt auch, lieber Leser, um dieses Buch zu lesen, und ich brauche meinen Verstand, um es zu schreiben. Doch mein Verstand begrenzt sich beim Schreiben darauf, die richtigen Tasten zu finden, auf Rechtschreibung und Grammatik zu achten. Die Inhalte des Geschriebenen kommen aus meinem innersten Kern, frei von Ego. Jedenfalls möchte ich das gerne glauben.
Je mehr ich lerne, die Einflüsse meines Egos zu erkennen, umso mehr folge ich meinem höheren Selbst, denn nur dann kann ich seine Impulse besser erkennen und umsetzen, wenn die Zeit reif dazu ist.
Sie mögen sich fragen: »Und wie macht er das?«
Immer, wenn es in meinem Innern zu laut wird, wenn ich von Gedanken umschwirrt bin, von Zweifeln geplagt oder Schwierigkeiten habe, eine Entscheidung zu treffen, sorge ich für Funkstille. Dazu entziehe ich mich allen äußeren Einflüssen und versuche, auch innerlich leer zu werden.
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